Spieltrieb: Roman
Unterrichten für dieses Wunder verantwortlich zu sein. Stück für Stück hatten Ada und Alev den Kurs in die Zange genommen, gaben das Gesprächsniveau vor, belohnten Neugier und Interesse mit schmeichelhaften Bemerkungen und begegneten den Ausfällen der Witzbolde durch verbale Strafaktionen, denen niemand etwas entgegenzusetzen hatte. Alev wusste es einzurichten, das Gelächter der Gruppe stets auf seiner Seite zu haben. Smutek bewunderte die Schnelligkeit und Exaktheit, mit der sie einander Bälle zuspielten. Sie schienen jede Regung des Gegners vorauszuahnen und nahmen ihre Siege mit unterkühlter Reglosigkeit entgegen. Sorgfältig achteten sie darauf, dass Smutek nicht zwischen die Fronten geriet, zogen sich beim kleinsten Zeichen seiner Missbilligung zurück und warteten auf die Gelegenheit zum nächsten Vorstoß. Obwohl Smutek sich rühmen konnte, als wahrscheinlich erster Lehrer der Welt gewinnbringende Klassenarbeiten über den Mann ohne Eigenschaften zu schreiben, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Ada und Alev für irgendetwas trainierten.
Weihnachten stoppte den Fluss der Ereignisse. Wieder überstanden die verletzten Herzen und verdrehten Hirne im goldensten aller Zeitalter ein weiteres Fest der Freude. Höfi hielt die Hand seiner Frau, fütterte sie löffelweise mit warmem Grießbrei und aß selbst, auf der Bettkante sitzend, einen kleinen Fisch, der nach dem zappelnden Schleppnetztod einer ganzen Sippe schmeckte. Smutek flog mit seiner Frau nach Paris, das er nicht leiden konnte, und lief drei Tage lang durch die schneebe-puderte Stadt. Frau Smutek sah bezaubernd aus mit ihren dunklen Haaren unter der roten Mütze, und weil Smutek sie so sehr liebte, ersparte er ihr die Frage, ob sie ein Kind von ihm wolle. Ada teilte sich am Heiligabend eine Wildschweinkeule mit der Mutter und am ersten Feiertag einen Hasenrücken mit dem Brigadegeneral und fragte sich, ob die Tiere einander gekannt haben mochten. In derselben Nacht lief sie durch Alevs Gasse und warf kleine Steinchen gegen das beleuchtete Pensionsfenster, hinter dem sich nichts abspielte außer einem gewöhnlichen Mittwochabend, bis Alev herauskam und mit ihr ums Haus herum in den düsteren Garten ging. Dort lehnte Ada sich gegen die Nacht in ihrem Rücken, das Gesicht hell vor dem schwarzen Hintergrund, und rollte zwei Zigaretten für sich und ihn. Ein keksfarbener Mond versteckte sich im Wolkengestrüpp. Sie wünschten sich frohe Weihnachten, während die Feuerzeugflamme zwischen ihnen hin und her ging, und ihre Gesichter, dicht beieinander, wurden zuckend verschönt vom tanzenden Licht. Alle Beteiligten spürten, wie ihnen das neue Jahr über die Schultern sah. Nicht alle würden es überleben. Niemanden würde es so hinterlassen, wie er zuvor gewesen war.
Der Prophezeiung zweiter Teil
F risch prangten die Kreidezeichen der Heiligen Drei Könige am Türbalken der PENSION. Alev brauchte zwei Anläufe, um den Schlüssel ins Schloss zu schieben. Das zweite Schulhalbjahr hatte begonnen, er war aufgedreht und erschöpft wie ein Börsenmakler am ersten Handelstag nach der Weihnachtspause. Als er nach Amila sehen wollte, saß der Vater gut gelaunt auf dem Sofa, ein vierter König, Nachzügler aus dem Morgenland, und hatte einen offenen Koffer voller Geschenke neben sich. Auf einen Blick erkannte Alev die immer gleichen Uhren, Damenschuhe und schwersilbernen Schlüsselanhänger. Amila trug zur Feier des Tages ein rotes Gewand und servierte Kaffee in langstieligen Kupferkännchen auf einem kleinen Tablett.
Draußen froren weggeworfene Weihnachtsbäume am Boden fest, eine Frostschicht zog sich wie ein heller Nylonstrumpf über Straßen, Mauern, Autos und Bäume. Der Vater erkundigte sich nach Maurice, der seit Silvester nicht mehr aufgetaucht war, und verkündete seinen Entschluss, die Familie alsbald in den Sudan umzusiedeln. Alev verkündete die Entscheidung, bis auf weiteres ein angesehenes Bonner Internat zu besuchen. Es dauerte wenige Minuten, bis sie sich Auge in Auge gegenüberstanden, Alev und der Mann, dessen Hoden er angeblich die Hälfte seiner Existenz zu verdanken hatte. Als der Vater beim Rückwärtstaumeln gegen die Schrankwand stieß und eine leere Blumenvase zu Boden riss, kam die Vermieterin so schnell ins Zimmer gestürzt, als hätte sie sich vor der Tür in Bereitschaft gehalten.
Längst saß Alev wieder neben der Mutter auf dem Sofa, die weiche Sitzfläche krümmte ihnen die
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