Spieltrieb: Roman
als lehnte er nicht mit dem Rücken an der Scheibe, sondern klebte von außen mit der Nase am Glas. Plötzlich setzte Entspannung ein und trieb Erschöpfung heran wie Herbstwind den Regen. Der große Mann aus schweren Knochen und Muskeln, mit kräftigen Beinen und behaarten Armen, glaubte mit einem Mal, nie wieder einen Schritt vor den anderen setzen zu können. Er wollte an der Wand hinunterrutschen und sich am Boden zusammenkauern, den Kopf zwischen den Knien, die Knie von den Armen umschlungen, sich einrollen zu einer menschlichen Kugel, die der Welt möglichst wenig Oberfläche bietet. Smutek war seekrank. Er hatte soeben eine jener eng gekrümmten Kurven des Schicksals durchlaufen, in denen die Ereignisse sich verdichten, während Uferwirbel den stabilsten Kahn gefährlich zum Schwanken bringen, bis alles breit und seicht in die nächste Gerade fließt.
Als der Großteil der Schüler in den Klassenräumen verschwunden war und die Flure sich leerten, klärten sich auch Smuteks Gedanken und gaben den Blick frei auf die handelsübliche Schlichtheit der Vorgänge. Vor drei Tagen hätte er um ein Haar seine Frau verloren. Inzwischen war es Teuter gelungen, den ersten seiner Gegner, Überbleibsel aus Singsaals langer Legislaturperiode, von der Schule zu werfen. Infolgedessen bekam Smutek irrwitzige Warnungen von Seiten der Kollegen zu hören, und ausgerechnet Höfi, der genau wusste, was in Dahlem geschehen war und wem Frau Smutek ihr Leben verdankte, sprach es ihm ausdrücklich ins Ohr: Es ist zu deinem eigenen Besten. Halt dich von diesem Mädchen fern.
Das war unangenehm, aber nicht surreal. Höfi war ein Mensch und nicht von Bunuel oder Tarantino ersonnen. Er hatte es gut gemeint. Wie alle anderen machte ihn die Befürchtung nervös, dass dem Fall Klinger weitere folgen könnten. Mit Smutek oder gar mit Ada hatte das nichts zu tun.
Smutek wartete ab, bis kein Schüler mehr in Sicht- oder Hörweite war, schlug den Hinterkopf einige Male gegen die Glasscheibe, erst leicht, dann fester, drückte sich schließlich mit den Händen ab und vollführte ein paar Hocksprünge, bevor er gemessenen Schrittes weiterging, mit geringfügiger Verspätung, zur nächsten Deutschstunde.
Weihnachten Zwei
W ann laden wir sie ein? Vielleicht zu Weihnachten? Isst sie Fleisch?«
Wenn Smutek nach Hause kam, hockte Frau Smutek auf der Fensterbank und wärmte sich die Finger an einer Tasse Tee von der Sorte, die sie nicht trinken wollte, wenn er sie zubereitete. Während des Sprechens schaute sie aus dem Fenster, die Augen zu weit geöffnet, die Brauen hochgezogen, dass es schmerzen musste. Draußen stand eine lückenlose Reihe Autos, Schnauze an Hintern, unter den kahlen Bäumen der Allee. In perfektem Schulterschluss schmiegten die Altbauten sich aneinander, alle stuckverziert und auf intellektuelle Weise höher als breit. Viele Fenster waren bereits erleuchtet, obwohl die Abenddämmerung noch eine Weile auf sich warten lassen würde. In dieser Straße, die Frau Smutek seit Stunden mit ihren Blicken belästigte, lebten die glücklichsten Menschen der Stadt. Sie waren jung, hatten eine Arbeit, die ihnen gefiel, besaßen ein hübsches Auto, Kinder oder sogar einen Hund, den sie aus dem Sommerurlaub in Andalusien mitgebracht hatten. Als Smutek vor dem gemeinsamen Umzug nach Bonn eine der begehrten Wohnungen ergattert hatte, war ihm nicht bewusst gewesen, dass er im Begriff stand, ins Artenschutzreservat der letzten glücklichen Deutschen zu ziehen. Seit vier Jahren freuten Frau Smutek und er sich täglich über den blonden Holzboden, die geschnitzten Türstöcke, die etwas zu klein geratenen Räume und über die ganze, bunt gemusterte Einrichtung, die größtenteils ihrer Studentenzeit entstammte und noch immer Tassen mit abgeschlagenen Henkeln, durchgewetzte Sessel und von Freunden gemalte Bilder enthielt. Es war nicht leicht, in einer solchen Straße am Fenster einer solchen Wohnung wie ein Häftling im Hungerstreik auszusehen. Frau Smutek gelang es. Sie fragte täglich nach Adas Essensplan.
»Ich würde Fisch machen, aber das traue ich mir nicht zu.«
»Mach doch pierogi ruskie«, pflegte Smutek an dieser Stelle zu erwidern. »Die kennst du sicher von deiner Mutter.«
»Ich habe keine Mutter«, sagte Frau Smutek, wandte endlich den Blick vom Fenster ab und starrte ihn kampfeslustig an.
»Ich weiß. Im Gegensatz zu deiner ist meine sogar tot.«
»Das ist weniger schlimm.«
»Du spinnst«, sagte Smutek leise. »Du solltest
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