Spielwiese: Peter Nachtigalls siebter Fall
wir miteinander telefoniert. Dabei haben wir uns für den kommenden Tag verabredet, aber Patricia kam nicht. Wir wollten uns auf dem Altmarkt treffen, schön essen gehen und mit einem Glas Sekt auf unsere Geburtstage anstoßen. Es ist nicht Patricias Art, nicht abzusagen. Sonst ruft sie sogar an, wenn sie sich um wenige Minuten verspätet. Und nun kein Anruf, keine Mail, niemand zu Hause. Nein! Da stimmt etwas nicht.«
»Vielleicht gab es berufliche oder persönliche Turbulenzen?«
»Aber nein! Patricia ist Sportredakteurin beim rbb. Es ging ihr gut, sie war nicht in irgendwelche Krisen verstrickt. Und sie hat sich auf unser Treffen gefreut. Sie werden sie doch jetzt suchen, nicht wahr?« Ilona Wanka war auf die Kante ihres Sessels gerutscht und streckte Wiener fast flehend ihre Hände entgegen.
Der junge Ermittler gab sich einen Ruck, zückte sein Notizbuch und sah die junge Frau aufmunternd an. »Gut, dann brauche ich eine möglichst exakte Beschreibung Ihrer Freundin. Haben Sie vielleicht auch ein aktuelles Foto?«
30
Manuela starrte verloren in das Gesicht ihres Babys. Schimmerte es blau oder bildete sie sich das nur ein? Es war ein Mädchen, wunschgemäß.
Manuela schloss die Augen. Versuchte, das Unfassbare zu vergessen. Ihr kleines Mädchen würde nie Fußball spielen. Sie würde nicht einmal laufen können. Wohl kaum die ersten sechs Monate überleben. Herzfehler. Aber das war nicht alles.
Die junge Mutter riss die Augen wieder auf und konnte den Blick nicht von der Gestalt in dem winzigen Bettchen lösen. Verformt sah der Körper ihrer Süßen aus. Deformiert.
Das war eindeutig nicht die Behinderung, die Mark durchs Leben begleitete.
Nein. Das hier war etwas völlig anderes.
Atmete die Kleine noch?
Manuela musste ganz genau hinsehen. Der Brustkorb hob und senkte sich beinahe unmerklich.
»Haben Sie während der Schwangerschaft irgendwelche Medikamente eingenommen?«, hämmerte die Frage der Ärztin hartnäckig durch ihre Gedanken. »Haben Sie Medikamente genommen?«
Zusammen mit der Frage erschien immer auch ein Bild aus ihrer Erinnerung. Ihre Hand und darin die Pillen von Andy. Vitamine.
Hatte er jedenfalls gesagt. Stimmte das?
Manuela kämpfte ein wildes, hemmungsloses Schluchzen nieder, das die Kleine nur geweckt hätte.
»Es tut uns leid. Viel können wir für Sie und Ihre Tochter nicht tun. Machen Sie sich mit dem Gedanken vertraut, nur wenig gemeinsame Zeit zu haben«, hatte die Ärztin erklärt.
Tränen stürzten über Manuelas Wangen.
Sie schenkte ihnen längst keine Bedeutung mehr. Es war Teil ihrer neuen Normalität, dass sie auf die Bettdecke tropften. Meine wunderbare Tochter ist behindert!, schrie ihre Seele.
Ihre Finger streichelten zärtlich über die winzigen Fäuste des Babys ohne Zukunft.
Als habe die Kleine die Berührung genossen, öffnete sie die Hände, entspannte sich und schmatzte wohlig. Manuela spürte eine tiefe, alles verschlingende Hoffnungslosigkeit. Mark steckte seinen Kopf zur Tür herein.
»Du sollst nicht immer weinen!«, ermahnte er die große Schwester und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Ach Mark!«
»Darf ich?«, fragte der Bruder und sah seine Nichte verliebt an.
»Ja. Aber nicht aufwecken!«
Sehr, sehr vorsichtig hauchte der sonst so ungelenke Junge dem Baby einen Kuss auf die winzige Nasenspitze. »Sie ist so winzig. Kaum zu glauben, dass alle Menschen so klein geboren werden!«
»Die meisten werden gesund geboren«, flüsterte die Schwester bitter.
»Meinst du nicht, es schadet der Kleinen, wenn die Mama immer nur traurig ist? So was überträgt sich doch«, meinte Mark besorgt.
»Mark, nun begreif doch! Sie wird nie ein normales Leben führen können. Jeden Tag ihres Daseins ist sie ein Pflegefall.«
»Das weiß ich. Aber wir können das schaffen, Manuela. Wir wechseln uns einfach ab. Du wirst sehen, wir schaffen das, wir müssen es nur wollen. Du kannst dich voll auf mich verlassen.«
»Ich habe mir eine Tochter gewünscht, mit der ich etwas unternehmen kann, die Fußball spielen wird, mit der ich Abenteuer erleben kann.« Manuela warf sich ins Kissen und überließ sich ihrer Verzweiflung.
Mark sah hilflos vom Baby zur Mutter.
Er setzte sich auf die Bettkante und wartete. Irgendwann würde seine Schwester sich beruhigen.
»Sie kann doch nichts dafür, dass sie all das nicht tun kann. Sie wünscht sich nur, bei ihrer Mama zu sein. Ach komm schon, Manuela. Findest du es wirklich so unerträglich, einen behinderten Bruder
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