Spielwiese: Peter Nachtigalls siebter Fall
zu haben? Mit mir konntest du all das auch nie.«
Manuela schälte ihr rotes, aufgedunsenes Gesicht aus dem Kissen und blitzte ihren Bruder zornig an. »Du Idiot! Sie ist nicht wie du. Sie ist sterbenskrank.«
»Pssst!«, warnte Mark.
Seine Nichte schlug die Augen auf und ein ungesteuertes Lächeln flog über ihr Gesichtchen. Der Onkel fühlte sich beschenkt.
In diesem Moment beschloss Mark, den beiden Frauen, die er im Leben am meisten liebte, einen Gefallen zu tun.
Als etwas später ihre Mutter ans Bett trat, starrte Manuela auf das Muster ihres Bettbezugs und schwieg.
»Ich habe mit der Ärztin gesprochen. Ihr könnt nächste Woche nach Hause. Bis dahin wird alles vorbereitet sein. Hast du den Namen für deine Tochter ausgesucht? Den Vater brauchen wir wohl nicht um sein Einverständnis zu bitten«, schloss sie verletzend.
»Papillon.«
»Wie?«
»Papillon.«
»Das ist kein Name! Papillon Winter – das klingt albern«, entgegnete die Mutter giftig.
»Sie ist mein Kind! Meins! Und ich suche ihren Namen aus – du redest mir nicht rein.«
»Reg dich doch nicht gleich so auf. Nenn sie, wie du willst. Aber ich bin nicht sicher, dass das Standesamt den Namen auch schön findet. Was bedeutet er überhaupt?«
»Schmetterling.«
»Schmetterling Winter?«, höhnte die Mutter.
Sie schwiegen sich an.
»Ich habe bei ein paar anderen aus Potsdam nachgefragt. Natürlich habt ihr Tabletten bekommen!«
Manuela zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. »Vitamine!«
»Guck dir deine Tochter an. Sieh hin! Welches Vitamin, glaubst du, macht aus einem gesunden Embryo so etwas?«, fuhr ihre Mutter sie scharf an.
»Es waren Vitamine«, beharrte die Tochter halsstarrig.
Andy hatte doch von ihrer Schwangerschaft gewusst. Schmerzhaft deutlich war die Erinnerung an diesen letzten Tag ihrer Liebe. Der Schlag brannte wie frisch auf ihrer Wange. Sie wagte kaum, das Unvorstellbare zu denken. War Andy fähig, ihr etwas zu geben, das dem gemeinsamen ungeborenen Kind schadete? Nein!, wehrte sich ein Teil ihres Denkens, nein, nicht Andy, das passte nicht zu ihm. Der andere Teil jedoch fragte sich, ob er nicht genau das getan hatte, bewusst, um das Ungeborene so zu schädigen, dass es nicht lebensfähig sein würde. So ergab sich auch für ihn keinerlei weitere Verpflichtung.
»Hast du noch ein paar von den › Vitaminen ‹ ? Ich könnte mal unseren Apotheker fragen, was da wirklich drin ist?«
Manuela hörte es kaum.
Hatte Andy versucht, Papillon zu töten?
»Ein gesunder Mann, der noch viele Jahre vor sich hatte. Verdammt!« Hajo Mangold spürte den leichten Druck der kleinen Flasche in seiner Innentasche und versuchte den Gedanken daran durch Aggressivität zu verdrängen.
»Auch er wurde überrascht. Wir suchen einen kräftigen Mörder, den niemand fürchtet!«, schimpfte Nachtigall. »Einen Gerüstbauer? Die brauchen viele Muskeln. Das weiß man und empfindet es als natürlich, nicht als bedrohlich. Oder ein Stahlarbeiter?«
»Klar«, seufzte Mangold, »oder Gewichtheber. Wie dieser Schneider. Du weißt schon, der, dessen Frau gestorben war. Bei denen gehören Muskeln auch zum Berufsbild. In Cottbus habt ihr doch jede Menge Sporteinrichtungen – meinst du, wir sollten da mal nachfragen? Zum Beispiel bei den Boxern?«
»Anatomische Kenntnisse hat er wohl auch. Ein Stich, genau richtig platziert. Mitten ins Herz, mit nur einem Versuch. Wenn wir wenigstens wüssten, warum er sie kreuzigt.«
»Schuld. Auf den Zetteln steht, bis die Schuld getilgt ist«, erinnerte Mangold den Cottbuser Kollegen.
»Ja, das ist aber auch schon alles, was wir zu diesem Thema wissen. Welche Schuld? Verrat, Aufwiegelei, Widerstand, Revolution, Nichtbezahlen von Steuergeldern – das sind die Motive, aus denen man an Kreuz geschlagen wurde. Jesus zum Beispiel wegen Hochverrats, weil er sich zum König der Juden erklärt hatte.«
»So etwas habe ich in den letzten Jahren aber nicht gehört. Das kann nicht der Grund sein«, gab Mangold in lockerem Plauderton zurück. Nachtigall begann, sich über die Kommentare des anderen zu ärgern.
»Nach einem Aufstand gegen Herodes wurden alle Revolutionäre, derer man habhaft werden konnte, ans Kreuz geschlagen. Da die Römer die Kreuze bevorzugt so aufstellten, dass man sie von weither sehen konnte, muss der Anblick schrecklich gewesen sein – abgesehen vom Jammern und Stöhnen der Opfer. Hast du gewusst, dass es bis zu drei Tage dauern konnte, bis man endlich starb?«
»Drei
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