Spielwiese: Peter Nachtigalls siebter Fall
der Schweiß ausbrach, während die Sprechstundenhilfe ihre Antwort gründlich erwog. Wiener wurde blass.
»Ja«, sagte Sofie einfach.
Aus den Augenwinkeln bemerkte der Hauptkommissar, wie sein junger Kollege zur Seite trat und mit der freien Hand sein Notizbuch aus der Gesäßtasche fingerte. Vielleicht hatte der Anruf gar nichts mit dem Fall zu tun. Er konzentrierte sich wieder auf seine Zeugin.
»Seine Frau wusste davon?«
»Sicher nicht. Sie liebt ihn wirklich, vertraut ihm blind. Im letzten Sommer haben sie ein kleines Gartenfest gegeben. Glauben Sie mir: So verliebt habe ich eine Frau nach der Hochzeit noch nie ihren Mann angucken sehen.«
Nachdenklich fragte Nachtigall: »Wäre es denkbar, dass Ihr Chef sich aus der Pause eine Frau in die Praxis mitgebracht hat?«
»Als Dessert, meinen Sie? Nun, das wäre zumindest ungewöhnlich gewesen, was aber nicht bedeutet, dass es nicht vorkam. Selten. Normalerweise hätte die Frau beim Gehen an mir vorbeikommen müssen. Herr Kowalski legte aber keinen gesteigerten Wert darauf, mich von seinen Eskapaden wissen zu lassen. Außerdem dürfte ihm bewusst gewesen sein, dass Maximiliane hier wartete.«
Der Schatten beobachtet emotionslos, wie immer mehr Einsatzfahrzeuge vor der Praxis von Wladimir Kowalski vorfahren. Der Notarztwagen hält mit kreischenden Bremsen. So ein Blödsinn! Der Schatten weiß, dass Kowalski nicht zu retten ist.
Wenn er etwas tut, dann immer perfekt. Nicht nur was den Mord angeht – sondern auch die Inszenierung. Da kann ihm keiner das Wasser reichen.
Seine hellblauen Augen sehen aus wie Glas. Das Blaulicht spiegelt sich darin wie ein lodernder Triumph.
Sie werden merken, dass all ihre bisherigen Überlegungen falsch sind, denkt er kalt. Und in diesem Augenblick trifft er noch eine Entscheidung. Die nächsten beiden wird er leiden lassen, bis in ihnen alles Leben erloschen ist. Nach Wladimir Kowalski ist für die Ermittler alles anders, nichts stimmt mehr.
Das bringt alles ins Stocken.
Er könnte stolz darauf sein, sich freuen. Doch ein Schatten wie er empfindet gar nichts mehr.
Michael Wiener warf sich stöhnend auf den Beifahrersitz. »Dein Kollege Mangold hatte einen Verkehrsunfall auf dem Weg nach Cottbus. Auf der Autobahn. Sein Wagen wurde unter einen Lkw geschoben und fast vollständig zerquetscht. Er liegt im Thiem-Klinikum zur Beobachtung. Ankekatrin Kruse auf der Beifahrerseite hatte nicht so viel Glück. Sie wird gerade operiert.«
Nachtigall starrte den jungen Mann sekundenlang wortlos an.
Kopfschmerzen und ein heftiger Schwindel kamen und verebbten wieder.
Hätte ich meinen Verdacht mit Hajo besprechen sollen? Gleich, nicht auf einen anderen Zeitpunkt verschieben? Ist Alkohol bei diesem Unfall im Spiel gewesen?, ratterte es erbarmungslos hinter seiner Stirn.
Er legte kommentarlos den ersten Gang ein und manövrierte das Auto geschickt an den geparkten Einsatzfahrzeugen vorbei.
»Die Familie des Arztes wohnt in Großräschen«, krächzte Peter Nachtigall nach einer Weile heiser.
»Wenn du möchtest, kann ich allein hinfahren«, bot Wiener an, doch der Hauptkommissar schüttelte stumm den Kopf.
Nachtigall fuhr zügig durch die Innenstadt, bog an der Fachhochschule Lausitz rechts ab und folgte der Straße bis zur letzten Einmündung. Hier bog er erneut ab. Und stand. »Feierabendstau.«
Hinter Drebkau wurde der Verkehr flüssiger. Etwa eine Dreiviertelstunde brauchten sie, bis sie das Häuschen der Familie Kowalski erreicht hatten.
»Seestadt Großräschen! Seestadt?«
»Aber ja. Hier wird in wenigen Jahren einer der Tagebauseen bis an die Stadt reichen.«
»Der Ilse-See?« Wiener staunte.
Das Häuschen der Familie lag am Stadtrand. Dahinter erstreckten sich endlos Felder und Wiesen.
Der kleine Garten erstrahlte in einem Meer aus Farben, wie es nur der frühe Herbst mit sich brachte. In der Eiseskälte der kommenden Monate bliebe nur der eintönige Anblick einer geschlossenen Schneedecke. Hatte der Vater mit seinen Kindern im Winter immer einen Schneemann gebaut? Mitten auf dem Weg zum Haus hatte eines der Kinder sein Dreirad geparkt. Nachtigall fiel ein, dass er vergessen hatte, Sofie nach dem Alter der Kinder zu fragen – nun wurde ihm bewusst, dass sie noch sehr klein sein mussten. Das Unbehagen wuchs.
Wiener musterte den Hauptkommissar und war froh, keinen Chef zu haben, dem der Tod eines Menschen gleichgültig geworden war. Empathie, erklärte Nachtigall gern, öffne den Blick für die Seele des
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