Spion Für Deutschland
Zunge war trocken wie Leder. Ich trank wahllos in mich hinein, was man mir reichte. Man gab mir al es, was ich wünschte. Man betrachtete mich mit scheuem Seitenblick oder mit grinsender Verlegenheit. Fast alle hatten Mitleid mit mir. Aber das amerikanische Mitleid geht oft seltsame Wege.
Ich war ein Ausstellungsstück. Ich war der Mann, der al en gezeigt wurde, bevor man ihn hängte. Allen Leuten wenigstens, die gute Beziehungen zum Fort Jay und seinem Kommandanten hatten, die in der Armee etwas zu bestellen hatten.
Tagsüber war ich selten allein. Fast alle, die kamen, drückten mir die Hand, erzählten mir etwas, was ich nicht verstand, wollten von mir etwas wissen, was ich nicht wußte. Sie fragten mich, wie es mir ginge. Es klang wie Hohn. Aber es war keiner. Es war etwas viel Schlimmeres: die Gewohnheit.
Die Sonne ging auf wie an jedem Tag. Die Stunde hatte 60 Minuten, die Minute 60 Sekunden. Die Kinder spielten, die Mütter lachten, die Männer verdienten Geld wie an jedem anderen Tag. Die Sekretärinnen erschienen in den Büros, pünktlich wie immer, erzählten sich gegenseitig die Abenteuer des Vorabends.
Die Liftboys grüßten dienstbeflissen, auf den Kasernenhöfen exerzierten die Rekruten. Die Welt ging ihren normalen Gang. Anormal war sie lediglich für mich. Anormal war lediglich, daß ich den fünften Tag, von heute ab gerechnet, nicht mehr erleben sollte. Die Richter hatten vor knapp fünf Wochen
gesprochen. Das Urteil war klar. Eine Berufung dagegen gibt es nicht. Meine Verteidiger drückten mir die Hand, und Major Reagin sagte:
»Es war mir eine große Ehre, Sie zu vertreten, Mr. Gimpel.«
Er gab mir eine Zigarette, reichte mir Feuer. Meine Hände waren bereits gefesselt. Knapp zwanzig Sekunden nach der Urteilsverkündung hatte mir ein MP-Soldat die Handschel en angelegt. Sie sollten mich in meinem weiteren Leben begleiten. In meinem Leben, das viel eicht noch fünf oder sechs Wochen währte. Höchstens. Die Handfesseln sollten mir treu bleiben bis zum Ende.
»Sie haben vor Gericht eine gute Figur gemacht«, fuhr Reagin fort. »Wenn ich etwas nicht ausstehen kann, dann sind es zimperliche Angeklagte. Was meinen Sie, was ich schon al es erlebt habe . . .«
Ich nickte.
»Kopf hoch«, sagte Reagin, »so lange wenigstens, wie es noch möglich ist. Das Urteil geht jetzt zum Obersten Amerikanischen Gericht. Dort wird lediglich überprüft, ob Verfahrensmängel vorgekommen sind. Das war leider nicht der Fall.«
»Und dann?« fragte ich.
»Es bleibt noch der Weg eines Gnadengesuches an den Präsidenten.«
»Das hat wohl wenig Sinn?«
»So gut wie gar keinen«, erwiderte Reagin. »So lange wenigstens, als Krieg ist.
Ein Gnadengesuch hat lediglich den Vorteil: es zeigt, daß Sie kein verstockter Nazi sind . . . Viele Verurteilte hätten vielleicht ihr Leben retten können, wenn sie nicht zu arrogant gewesen wären, um ein Gnadengesuch einzureichen.«
»Machen Sie bitte das Gnadengesuch fertig«, antwortete ich. Ich versuchte zu lächeln. Ich weiß nicht, ob es gelang.
»Ich halte Sie auf dem laufenden«, sagte Reagin. »Ich besuche Sie jede Woche.
Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie an Ihrer Behandlung etwas auszusetzen haben. Das könnte ich sofort abstellen.«
Er gab mir die Hand.
»Die Fesseln hätte ich Ihnen gerne erspart«, sagte er, »aber es geht nicht. Es ist Vorschrift.«
Er ging. Ich blieb. Eine Woche verging. Eine zweite. Eine dritte und vierte.
Jetzt war es soweit. Eines Morgens war ein Mann gekommen, der sich die Adresse meiner nächsten Angehörigen in Deutschland notierte. Ich wußte, was das bedeutete. Der Koch hatte sich erkundigt, was ich in den nächsten Tagen zu essen wünschte. Ich wußte, was das bedeutete. Der Armeegeistliche hatte anfragen lassen, ob er mich besuchen sollte. Ich wußte, was das bedeutete ...
Ich habe den Leuten die Adresse meines Vaters gegeben, hatte mir aber erst ein paar Sekunden lang überlegen müssen, wo mein Vater wohnt. Wie weit, wie lange, wie hoffnungslos lag das al es hinter mir.
Ich sah den Mann vor mir, von dem ich die Figur, die Haltung, die Augen, die Nase und die Lust, das zu tun, was man nicht tun soll, geerbt habe. Als ich drei Jahre alt war, stand ich am Sarg meiner Mutter. Ich begriff nichts. Ich war noch zu klein. Mein Vater erzog mich. Ich wuchs neben ihm in der
selbstverständlichen, schweigenden Kameradschaft auf, die der frühe Tod der Mutter zwischen Vater und Sohn schaffte. Ich tat als Junge alles, was man nicht tun
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