Splitter im Auge - Kriminalroman
waren nicht träge. Sie zeigten ihr ein Mädchen, das leichtfüßig über eine Bühne tanzte, schmalgesichtig mit großen Augen unter einem riesigen Hut, und das mit einer hellen, klaren Stimme mühelos sang. Die Texte konnte sie bis heute, und manchmal sang sie noch ein paar Zeilen: »Far away from the cold night air …« Aber diese Momente waren immer seltener geworden.
Sie war die Zweitbesetzung für Eliza Doolittle gewesen, und das eigentlich auch nur wegen ihres Namens, wie die Musiklehrerin gesagt hatte, und weil sie in der Klasse ohnehin nicht so viele Mädchen waren. Schon als Kind war sie nie der Typ für Erstbesetzungen gewesen, und wenn sie andere Leute von deren Kindheit als einer endlosen Reihe verspielter Tage, an denen meistens die Sonne schien, reden hörte, fühlte sie sich fast undankbar. Denn ihre Kindheit war anders gewesen. Nicht grausam oder angstvoll, es gab auch keine schlimmen Erinnerungen, die sie quälten, von Misshandlungen oder Strafen. Ihre Kindheit war in ihrer Erinnerung eine endlose Reihe von Tagen, an denen das Wetter grau war und nichts passierte, ein ewiger Sonntagnachmittag im November. Darum war sie damals auch nicht traurig gewesen, nur die zweite Besetzung zu sein, nicht mal danach hatte sie sich gedrängt. Und diese Eliza war schon ein eigenartiges Mädchen. Nie wäre die wahre Elisabeth aus freien Stücken zu Higgins gegangen, um Sprechunterricht zu nehmen, hatte sie oft gedacht. Aber Eliza schon. Sie hatte nicht gewusst, ob sie neidisch sein oder aber das Blumenmädchen dafür bewundern sollte. Sie wusste es bis heute nicht.
Als die erste Besetzung nach drei Aufführungen Scharlach bekam, durfte sie an den restlichen beiden Abenden auf die Bühne. Bis auf den letzten Platz war die Aula der Schule besetzt, und am Ende standen alle, applaudierten, riefen: »Bravo« und: »Da capo« und solche Dinge, und bei der letzten Aufführung hatten sogar ein paar in der ersten Reihe begonnen, »Eliza, Eliza« zu rufen, dann immer mehr und am Ende fast alle.
Der Junge am Mischpult hatte die Musik angespielt, und sie ganz allein hatte die Zugabe gesungen. Hinterher applaudierten wieder alle, die Leute auf den Plätzen, die Lehrer und die Sänger, die auf der Bühne hinter ihr standen. Hätte sie sich diese Situation vorher ausgemalt, hätte sie Angst davor gehabt, aber in dem Augenblick auf der Bühne war nur flirrendes, funkelndes Glück in ihr. Nie wieder in ihrem Leben hatte sie sich so gefühlt.
An einem Samstagabend Jahre vorher hatte sie mit ihrem Vater, kurz bevor er starb, eine Familiensendung im Fernsehen gesehen, in der Kandidaten über einen Hindernisparcours laufen mussten. Mal liefen sie über eine sich drehende Rolle, mal war der Untergrund glitschig oder schräg, und alle paar Meter schwangen von der Seite riesige gefüllte Säcke herüber, die an langen Seilen hingen und denen man ausweichen musste. »Siehst du«, hatte ihr Vater damals gesagt, »so ist das Leben, Lisa, genau so.« Und solche Sachen sagte er meistens, wenn er schon etwas getrunken hatte.
Sie hatte sofort gewusst, was er meinte, und dieses Bild hatte sie nie vergessen. Auch heute noch dachte sie immer mal wieder darüber nach, aber weder wusste sie, was sie aus der Bahn geworfen hatte, noch an welcher Stelle des Parcours sie von einem der Säcke getroffen worden war.
Ihre Ehe war von Anfang an ein Irrtum gewesen, obwohl Siggi ein netter Kerl gewesen war und sie nie schlecht behandelt hatte. Auch die Trennung von ihrer Tochter, die sie schon acht Jahre nicht gesehen hatte und die jetzt vierundzwanzig Jahre alt sein musste, war kein Grund für die, sondern eine Folge der Trinkerei gewesen. Sie hatte bis heute keinen Schimmer, was es war, sie wusste nur, dass die Aussicht auf diese innere Glut eine Verheißung war, der sie nicht widerstehen konnte. Eigentlich konnte sie es auch jetzt noch nicht, aber seit Leo in ihrem Leben war, trank sie weniger.
Leo war ein Jahr jünger als sie. Mit vollem Namen hieß er Leopold Gruber, aber seit sie ihn kennengelernt hatte, nannte sie ihn Leo. Das war vor vier Jahren gewesen. In einer schon sehr kalten Oktobernacht hatte sie nur noch einen Schlafplatz im Grünen ergattert. Als es irgendwann eisig zu regnen begann und ihre Pappunterlage durch war, hatte Leo seine Plane mit ihr geteilt. Sie hatten zwar beide nur sitzen können, aber es war das erste Mal seit Jahren gewesen, dass sie wieder einen Körper so nah an ihrem gespürt hatte. Das war der Moment gewesen.
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