Splitter im Auge - Kriminalroman
den Wagen und fuhr los.
43
Seit wann er es so machte, wusste Steiger nicht mehr, aber direkt nach dem Aufwachen sah er nie auf die Uhr. Aus dem Grunde hatte er sich einen Wecker gekauft, schon vor Jahren, dessen Display im Dunkeln nicht zu sehen war und erst auf Knopfdruck leuchtete. Er hoffte immer, noch einmal einzuschlafen, weil er ahnte, dass es zu früh war. Es war immer zu früh, aber eine Ahnung war eben kein Wissen, und mit diesem Selbstbetrug hatte er manchmal die kleine Chance auf ein paar Minuten weiteren Schlaf. An ganz wenigen Tagen gelang es.
Heute geschah es nicht, weil er nach dem Aufwachen die Taste drückte und sah, dass es zehn vor fünf war.
Er stand auf, verzichtete auf das Fernsehritual und machte sich Kaffee und Eier. Nach dem Duschen nahm er sich die Liste vor und strich, nachdem er sich Körtners Foto noch einmal angesehen hatte, zunächst alle Halter, die jünger als fünfundzwanzig und älter als fünfzig waren. Danach verglich er alle Adressen mit den Orten, die innerhalb des Kreises auf der Karte im Autoatlas lagen, was eine ziemlich mühselige Angelegenheit war, weil er sich dort nicht auskannte. Übrig blieben immer noch über hundert Adressen, zu denen auch alle Autos gehörten, die auf eine Firma zugelassen waren.
Kurz vor acht verließ er das Haus und traf auf Jenny. Dabei fiel ihm auf, dass er sie seit Sonntag nicht gesehen hatte.
»Na, Jenny«, sagte er, als sie gemeinsam das Haus verließen. »Heute kein Mathetest im Programm? Oder verbringst du den Morgen wieder irgendwo in der Stadt?«
Sie trottete neben ihm und sagte: »Nee, heute kein Mathetest.« Weil sie ihn dabei nicht ansah, wirkte es zurückhaltender als sonst, und er wusste nicht, ob das Verlegenheit war oder etwas anderes.
Am Auto verabschiedeten sie sich, und das Mädchen ging weiter. Noch bevor er die Tür zuschlug, hörte er, wie sie seinen Namen rief. Sie war einer der wenigen Menschen, die ihn Thomas nannten, wahrscheinlich, weil sie nichts von seinem anderen Namen wusste.
»Ja?«, sagte er und hielt den Kopf aus der geöffneten Tür.
Sie war stehen geblieben, hatte sich zu ihm umgedreht und rief: »Danke!« Dann ging sie lächelnd weiter.
Steiger sah ihr noch eine Weile nach, lächelte ebenfalls und war in dem Moment froh, der Mutter nichts gesagt zu haben. Aber die Frau gab es vermutlich eh nicht, dachte er.
Um elf Uhr hatte er drei der kleinen Ortschaften abgegrast und zwölf Fahrzeuge von seiner Liste gestrichen, weil die Halter absolut keine Ähnlichkeit mit dem Foto hatten oder ihm ein ziemlich plausibles Alibi für den relevanten Samstag nennen konnten. Natürlich müssten die im Zweifelsfall noch überprüft werden, aber er wollte zunächst die Dinge erledigen, die als Einzelkämpfer auf die Schnelle machbar waren. Batto hatte ihm von einem bestimmten Prinzip erzählt, dessen Namen er vergessen hatte, welches aber irgendwie damit zu tun hatte, dass man für die Erledigung von achtzig Prozent einer Sache nur zwanzig Prozent des Aufwandes benötigte, den man für die hundertprozentige Erledigung brauchte. So hatte er es im Kopf behalten, dabei an seinen Hausputz gedacht und fand, da könnte etwas dran sein.
Weitere zehn Halter waren nicht zu Hause gewesen, was an einem normalen Mittwochmorgen zu erwarten gewesen war, weil sie vermutlich arbeiteten. Hat auch mit der Gegend zu tun, dachte er. In Dortmund hätte er einige Straßen aufzählen können, in denen der Prozentsatz derer, die morgens nichts zu tun hatten, wesentlich höher war. Natürlich bedeutete das, dass er bei diesen Leuten noch einmal vorbeischauen musste, und bei dem Gedanken fielen ihm wieder die abgelatschten Schuhe von der Collage im KK 11 ein.
Auf halber Strecke zum nächsten Ort hielt Steiger an einem kleinen Waldstück, weil er pinkeln musste. Morgens hatte es den ersten Nebel gegeben, jetzt war die Sonne durchgekommen, und als er fertig war, setzte er sich auf die Motorhaube und steckte sich einen Zigarillo an.
Sein Handy fiepte. Es war der Förster aus Wesel, der heute Morgen telefonisch nicht zu erreichen gewesen war. Seine Sekretärin hatte Steiger einen Rückruf zugesichert, sobald ihr Chef eintreffe, und Steiger hatte sich gewundert, dass Förster mittlerweile Sekretärinnen hatten. Er wusste, dass das Beamte waren wie er, hatte aber immer noch das Bild von Männern vor Augen, die in grünen Klamotten durch den Wald stiefelten. Irgendwas daran schien nicht mehr auf der Höhe der Zeit zu sein.
Steiger schilderte sein
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