Splitter im Auge - Kriminalroman
weg.«
»Die meisten schon«, sagte sie, »aber mit denen komme ich ja auch nicht zu euch. Hier«, sie zeigte ihm das Bild eines Mädchens mit langen Haaren, das aussah, als sei es in den Siebzigern aufgenommen worden, »Nadine Neumann, fast fünfzehn Jahre alt, ist seit gestern Abend verschwunden. Ihr Vater hat es erst heute Morgen gemerkt, weil er Spätdienst hatte, und der geht bei denen bis drei Uhr. Er schaut dann nicht mehr bei seiner Tochter rein, weil die davon immer wach wird und das nicht möchte. Das Mädchen ist vor einem Jahr schon zweimal abgehauen, aber damals war es wegen der Trennung von seiner Frau. Da ist wohl immer noch einiges im Busch, weil die Tochter gern bei ihm bleiben möchte, die Mutter das aber nicht will. Der Grund ist der neue Lebenspartner der Mutter, mit dem sie nicht klarkommt. Der Vater sagt, seit einem halben Jahr sei sie jetzt bei ihm, und es laufe ziemlich gut.«
»Seit wann genau ist sie verschwunden?«
Renate Winkler wiegte den Kopf und sagte: »Da hat er erst ein bisschen rumgezickt, weil sie jeden Tag an einer Tankstelle in Wickede an der Wickeder Straße arbeitet, was sie natürlich mit vierzehn noch nicht dürfte. Er hatte Angst, dass das Jugendamt ihm daraus was drehen könnte, von wegen Aufsichtspflicht und so, wenn das jetzt bekannt würde.«
»Und da ist sie zuletzt gesehen worden?«, fragte Batto.
»Genau, da ist sie zuletzt gesehen worden, gestern Abend gegen acht Uhr hat sie jemand abgelöst, auch so ein Bürschchen, aber etwas älter. Sie wollte dann zum Bus gehen, ist aber danach nicht mehr gesehen worden. Schaut doch mal, vielleicht fällt sie euch ja auf in der Stadt, das Bild steht auch im Intranet. Ich hab’ schon die Krankenhäuser, Taxizentralen und so weiter angerufen, bis jetzt ohne Erfolg.«
»Klingt doch eigentlich wie immer, oder?«, sagte Batto und sah sich das Bild genauer an.
Renate Winkler atmete einmal tief durch. »Ich mag’s gar nicht sagen, aber ich hab’ schon das zweite Mal in zwei Wochen ein komisches Gefühl, und letzte Woche hat es mich nicht getäuscht«; sagte sie dann doch. »Aber bevor ich die ganz große Welle mache – schließlich ist sie schon mal abgehauen –, will ich noch mal den Weg bis zum Bus abgehen und bei ein paar Adressen nachfragen, die mir der Vater gegeben hat. Wenn sie heute Abend nicht wieder da ist, entscheide ich neu.«
»Wir helfen der Kripo doch immer gerne«, sagte Batto und lächelte.
Renate Winkler gab ihm einen Klaps auf die Schulter und ging.
Im Funk bat einer seiner Wagen um Unterstützung. In einem Kaufhaus auf dem Westenhellweg gab es Ärger mit drei aggressiven Ladendieben. Batto fand einen seiner jungen Kommissaranwärter im Schreibraum, nahm ihn mit und war schon wieder unterwegs.
45
Clever schien sie zu sein. Er sah durch den Spion, und sie saß aufrecht auf der Liege mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Dass man mit der Kette am Bein zwar Bewegungsfreiheit hatte, aber nicht bis zur Tür kam, hatte sie schnell gemerkt. Wenn man klug war, vergeudete man keine Kraft, sondern nahm den einzig angenehmen Platz ein, den man unter diesen Umständen erreichen konnte, und das war die Liege. Äußerlich wirkte sie ruhig, aber in ihren Augen war Panik, das war selbst durch den Spion zu sehen. Soweit es sich durch die leichte Verzerrung der Linse erkennen ließ, hatte sie noch nichts von dem Wasser angerührt. Vielleicht vermutete sie nach der Injektion im Auto, dass es nicht sauber sein könnte, er hielt das für möglich. Sie schien wirklich clever zu sein. Vorsichtig schob er die kleine Scheibe wieder vor die Linse und ging einen Raum weiter.
Auf der Metallliege lag der Mann und war immer noch bewusstlos. Das würde sich auch während seines Aufenthaltes hier nicht ändern, wenn er das Mittel richtig berechnet hatte.
Sehr zeitig war er am Morgen losgefahren, weil er vorher nicht rausgefunden hatte, wo das Pärchen seine Nächte verbrachte, und sich auf eine längere Suche eingestellt hatte. Aber der Penner mit den Flaschen war ihm direkt in der Nähe der Tankstelle in die Hände gelaufen, viel früher als erwartet. Natürlich hatte er sein Angebot nicht ausschlagen können, fünfzig Euro die Woche waren für so jemanden ein Vermögen, vor allem, wenn man dafür nichts anderes tun musste, als man ohnehin den ganzen Tag tat. Flaschen einsammeln.
Er trat näher heran und sah, dass sich der Brustkorb des Mannes gleichmäßig hob und senkte. Bis auf die Unterhose war er nackt; beim Ausziehen hatte
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