Splitter
blickte seinem Bruder ins Gesicht. Benny näherte sich vorsichtig, wobei er es vermied, das rechte Bein zu belasten.
»Hau ab!« Marcs Pistole wanderte in seine Richtung. »Nimm die Waffe runter und lass es mich erklären.«
»Nein, verpiss dich!«
Sie waren jetzt allein in der Halle, ängstliche Gesichter pressten sich von außen gegen die Scheiben zum Eingangsbereich, mehrere Menschen sprachen in ihre Handys. »Bitte. Ich bringe dich zu Sandra.« Benny humpelte auf ihn zu, streckte seine Arme aus. »Bitte«, flehte er noch einmal tonlos.
Marc schluckte, wischte sich über das Gesicht. Seine Beine begannen zu zittern, und ihm wurde übel. Die Erschöpfung war so groß, dass er kaum noch die Pistole gerade halten konnte.
»Du lügst«, weinte er.
»Nein«, sagte Benny. »Komm, noch ist es nicht zu spät.«
Glaukomchirurgie, Koloproktologie, minimalinvasive Chirurgie, Gastroenterologie, Onkologie - Constantin hatte das Spektrum der Behandlungsmöglichkeiten seiner Klinik in den letzten Jahren beträchtlich erweitert. Ursprünglich als eine Einrichtung für chirurgische Spezialeingriffe geplant, beherbergte sein Haus jetzt außerdem noch eine Rheumatologie, ein Zentrum für plastische Chirurgie und eine Geburtsstation, zu der sein Bruder ihn jetzt führte. Es dauerte lange, bis sie die drei Etagen erstiegen hatten. Benny schien unter den Folgen einer Gehirnerschütterung zu leiden, außerdem zog er das Bein nach. Marc drückte ihm dennoch die Pistole in den Rücken. Sein Bruder hatte ihm lange genug etwas vorgemacht, erst die Zurückweisung, dann seine Hilfe, seine brüderliche Freundschaft und nun vielleicht auch seine Verletzungen.
Sie erreichten das oberste Stockwerk des Flachdachbaus und öffneten eine Glastür, hinter der der Stationsbereich lag.
»Perinatalzentrum« stand mit weißer Schrift auf einem blauen Schild. Ein Wegweiser zeigte nach rechts. »Wo sind wir hier?«, fragte Mare, als sie den Gang betraten. Auf der Kinderstation, die er einst mit Sandra besichtigt hatte, hatten bunte Bilder an den Wänden gehangen; Fotos von glücklichen Babys, mit denen sich die noch glücklicheren Eltern bei Ärzten und Schwestern bedankten. Wo es nur möglich war, hatte man versucht, die typischen Ausstattungsmerkmale einer Klinik abzuschwächen, etwa mit orangefarbenen Wänden, mit Dienstkitteln, die mit aufgestickten Disneymotiven verziert waren, und leiser, klassischer Musikbeschallung in den Gängen. Eine Geburt ist keine Krankheit, hatte Constantin immer erklärt. Doch schien seine Devise nicht bis zu diesem Teil der Station vorgedrungen zu sein. »Hier ist nicht der Kreißsaal«, sagte Benny. »Nicht?« Er blickte auf einen weiteren Wegweiser: »OP UI/Neugeborenen-Intensivstation«.
»Hierhin kommen die Problemfälle.«
»Großer Gott, er weiß noch nicht einmal, dass es Komplikationen gibt.«
»Was denn für Problemfälle?«
Mare bekam keine Antwort, denn in diesem Augenblick öffnete sich direkt vor ihnen eine Tür, und ein breites Krankenbett wurde herausgeschoben. Und mit ihm seine Frau.
Sandra.
Sie war leichenblass, die Augenlider waren halb geschlossen, beide Hände wie zum Gebet über ihrem gewaltigen Bauch gefaltet. Aus den Armen führten Schläuche zu medizinischen Geräten am Bettgestell. Eine Schwester schob sie weiter den Flur hinunter. »Halt«, rief er und schloss zu dem Bett auf, um sich noch einmal zu vergewissern. Doch es war keine Täuschung, ebenso wenig, wie er sich gestern geirrt hatte, als sie seine Wohnungstür aufgemacht hatte. Sandra.
Er erkannte die Lippen, die er so oft geküsst, und die geschwungenen Augenbrauen, die er so oft berührt hatte, dass man die damit verbrachte Zeit in Stunden hätte messen können.
»Wer sind Sie ?«, fragte die Schwester erschrocken und griff zu ihrem Piepser, als sie die Waffe in seiner Hand sah.
»Ich bin’s, Marc«, antwortete er, den Blick starr auf Sandra geheftet.
Bin ich das wirklich? Stehe ich hier und sehe in die Augen meiner verstorbenen Frau? Oder existiere ich gar nicht und lebe in einer Scheinwelt des Schreckens? Marc begann zu weinen und streckte die Hand nach Sandra aus, teilte mit dem Zeigefinger ihre Lippen, als wolle er ihr helfen, einen Laut hervorzuholen, denn es schien sie eine übermenschliche Kraftanstrengung zu kosten, den Mund zu öffnen. Endlich, nachdem eine gefühlte Ewigkeit vergangen war, hörte er die erlösenden Worte. »Ich liebe dich, Luke.«
Grenzenlose Erleichterung durchströmte ihn. »Ich liebe dich so
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