Splitter
von einem Tag auf den anderen«, Leana kniff die Augen zusammen, wodurch ihr Blick noch intensiver wurde, « … etwa einen Monat vor der Überprüfung, war er plötzlich wie ausgewechselt. Er verlangte nach Obst und Vitaminsäften, joggte unter Aufsicht durch den Park und las die Bibel.«
»Die Bibel?«
Das klang wirklich nicht nach seinem kleinen Bruder. »Ich bin mir nicht sicher, ob es etwas zu bedeuten hat … », fuhr sie fort, »… aber Bennys Verhalten änderte sich an dem Tag nach einer Kernspinuntersuchung.« Kernspin? Hatte Bennys psychische Störung etwa eine organische Ursache?
»Und auch das ist merkwürdig. Normalerweise durchleuchten wir das Gehirn nach Anomalien, aber bei Benny wurde nur der Unterleib gescannt. Obwohl er nie über Beschwerden geklagt hatte. Ich habe mir die Bilder besorgt.«
»Und?«
»Nichts. Er ist vollkommen gesund.«
»Sie sind keine Ärztin, Leana.«
»Aber ich habe Augen im Kopf. Und ich habe mitbekommen, wie Benny seit dieser Untersuchung mehrfach versucht hat, seine Medikamente auszuspucken. Als ich ihn darauf angesprochen habe, hat er gesagt, er wolle kein Gift mehr in seinen Körper lassen.«
Marc drehte sich zu ihr herum und ging einen Schritt auf sie zu. »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«
»Ich glaube, er hat dem Untersuchungsausschuss etwas vorgespielt. »
»Wieso sollte er das tun? Er wusste, dass ich meine Aussage zurücknehme.«
Nachdem die Tragödie sein Leben zerrissen und der Unfall ihm das genommen hatte, was er am meisten liebte, war Marc alles gleich gewesen. Constantin hatte nicht viel Überzeugungsarbeit leisten müssen, um ihn dazu zu bewegen, die Falschaussage zu korrigieren, mit der er seinen Bruder in die psychiatrische Zwangsunterbringung gebracht hatte, auch wenn ihm damit nun selbst ein Strafverfahren bevorstand. »Hol deinen Bruder da raus«, hatte sein Schwiegervater ihm geraten. »Du brauchst ihn. Er ist der einzige lebende Verwandte, der dir jetzt noch bleibt.«
Hatte er sich bis zu Sand ras Tod noch täglich Gedanken und Sorgen um seinen labilen Bruder gemacht, so war ihm danach alles gleichgültig gewesen. Er reflektierte nicht mehr darüber, ob Benny in einer geschlossenen Anstalt besser geschützt wäre als auf der Straße; er war jetzt selbst psychisch nicht mehr in der Lage, zwischen richtigen und falschen Entscheidungen zu unterscheiden. Und heute Abend wollte ihm das erst recht nicht gelingen, an einem Tag, an dem er ein Mädchen vom Selbstmord abhalten musste und sich kurz danach in einem medizinischen Untersuchungsmarathon wieder fand.
Marc spürte Wut in sich aufsteigen. »Sie müssen schon entschuldigen, aber Sie haben mir doch wohl nicht hier aufgelauert, nur weil Benny plötzlich seine gesundheitsbewusste Ader entdeckt hat?«
»Nein.«
»Sondern?«
»Wie gesagt, ich mache mir große Sorgen. Sie sollten wirklich ein Auge auf ihn haben. Ich glaube nicht, dass er hier draußen alleine lebensfähig ist.«
Das brauchst du mir nicht sagen. Ich habe ihn damals schließlich in der Badewanne gefunden.
»Und woraus schließen Sie das?«
»Daraus.«
Sie setzte ihre Tüte ab und griff in die Innentasche ihrer Jacke, aus der sie einen ausgebeulten Briefumschlag hervorzog.
»Das habe ich in seinem Zimmer gefunden. Beim Wechseln der Laken, eine Stunde nach seiner Entlassung.«
Sie öffnete den Umschlag, und Marc wusste nicht mehr, was er sagen sollte.
»Fünfzehntausend Euro, die Scheine sind echt«, sagte Leana, und ihre Stimme klang zum ersten Mal etwas unsicher, beinahe ratlos. »Ich weiß nicht, was das soll. Und ich habe keine Ahnung, wie Ihr Bruder in der Geschlossenen da rangekommen ist.«
13. Kapitel
Irgendwie war es ihm gelungen, die besorgte Krankenschwester mit dem Versprechen abzuwimmeln, er werde ein Auge auf seinen Bruder haben und die Sache mit dem Geld klären. Dabei waren sie so verblieben, dass sie die Scheine so lange nicht anrührte, bis er sich wieder bei ihr meldete. Allerdings konnte er sich nicht vorstellen, wann er je wieder die Kraft dazu finden würde. Momentan erschien ihm bereits der Aufstieg im Treppenhaus wie ein unüberwindbares Hindernis.
Mühsam ging er die Stufen nach oben, entlang an Schuhbergen, die sich vor jeder Haustür stapelten und die durch Zustand, Größe und Geruch ebenso viel über die Bewohner des Hauses aussagten wie die Aufkleber an ihren Türen oder der Krach des Fernsehprogramms, das den Flur gleich mit beschallte. In der kurzen Zeit, in der er hier wohnte, hatte Marc
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