Splitter
kaum jemanden zu Gesicht bekommen. Dennoch hatte er eine recht klare Vorstellung von dem Leben seiner neuen Nachbarn. Von der alleinerziehenden Mutter, die sich keinen Schuster leisten konnte, dem Alkoholiker, der schon morgens lieber Wrestling sah, als die Flaschen zum Container zu bringen, oder von dem Witzbold, auf dessen Fußmatte »Betreten verboten« stand.
Endlich war er im dritten Stock angelangt und griff in seine Hosentasche, um den Schlüssel hervorzuziehen, den er im Gespräch mit Leana wieder weggesteckt hatte. Dabei stieß er auf das Anmeldeformular zum MemoryExperiment, das von ihm am Ende der Untersuchungen natürlich nicht unterschrieben worden war.
Ich brauche noch etwas Bedenkzeit, hatte er Bleibtreu zum Abschied angelogen. Ein Abschied, auf den kein Wiedersehen folgen würde, so viel war sicher. Die Vorstellung, den Unfall mit einer einzigen Pille vergessen zu können, war zwar verlockend, aber nicht um den Preis seiner Identität. Ebenso gut hätte er ein Leben im permanenten Drogenrausch in Erwägung ziehen können. Marc kramte das Schlüsselbund hervor, das ihm der Wachmann der BleibtreuKlinik zusammen mit seinen Wertgegenständen und dem Handy beim Verlassen des Gebäudes zurückgegeben hatte. Das Display hatte keine Anrufe in Abwesenheit angezeigt.
Irgendwie hatte es eine Motte unter die Plastikabdeckung der Halogenlampe über seiner Wohnungstür geschafft und flog von innen immer wieder gegen die Scheibe. Marc seufzte und steckte den Schlüssel ins Schloss.
Was zum Teufel?
Marc sah nach oben, um sich zu vergewissern, dass er in seiner Müdigkeit keinen Fehler gemacht hatte. Aber da stand es schwarz auf grünem Putz. Appartement 317. Seine Wohnung. Und trotzdem ließ sich der Schlüssel keinen Millimeter weit drehen.
Verdammt, das fehlt gerade noch.
Er zog den grobzackigen Sicherheitsschlüssel wieder aus dem Zylinder und hielt ihn gegen das Licht. Alles normal. Kein Knick, keine Delle.
Die Motte summte bedrohlich auf, als Marc es erneut versuchte; Dieses Mal rüttelte er etwas heftiger und stemmte sich sogar mit der Schulter gegen das Türblatt. Vergeblich. Er wollte gerade einen dritten Anlauf nehmen, als sein Blick auf das Namensschild neben der Klingel fiel.
Marc hielt erschüttert inne.
Wer, um Himmels willen, hat das getan?
Das Schlüsselbund in seinen Händen begann zu zittern. Er starrte ungläubig auf den geschwungenen Namenszug. Jemand hatte sein Schild durch ein neues ersetzt, auf dem nicht mehr Lucas, sondern Senner stand. Der Mädchenname seiner verstorbenen Frau. Es dauerte eine Schrecksekunde, dann verwandelte sich der Schock in grenzenlose Wut über diesen grausamen Scherz. Er steckte den Schlüssel wieder ins Schloss, rüttelte an der Tür und trat sogar mit den Füßen dagegen, bis er erneut wie paralysiert erstarrte, als er die Geräusche hörte.
Ist da etwa jemand … ?
Kein Zweifel. Marc presste das Ohr an die Tür und hörte es laut und deutlich. Schritte. Sie kamen direkt auf ihn zu. Von innen. Aus seiner Wohnung. Aus Wut wurde nackte Angst.
Er wich in der Sekunde zurück, in der die Tür aufging. Nur für einen kleinen Spalt, soweit es die goldene Sicherheitskette erlaubte. Und dann, in dem Moment, in dem er die Gestalt mit blassen Wangen und ungekämmten Haaren sah, die ihn aus seiner eigenen Wohnung heraus aus traurigen Augen anblickte, hörte die Zeit auf zu fließen.
Er blinzelte, unfähig, auch nur ein einziges Wort zu sagen. Schloss die Augen, um sicher zu sein. Doch er benötigte keinen zweiten Blick. Er hatte sie bereits an ihrer hochgezogenen Augenbraue erkannt; an ihrem ungläubigen Gesichtsausdruck, als hätte er ihr gerade eben erst gesagt, wie schön er sie fand.
Direkt vor ihm, nur zehn Zentimeter entfernt, stand sie zum Greifen nah.
Sandra.
Die Liebe seines Lebens. Seine hochschwangere Frau.
14. Kapitel
»Was ist … ? Du kannst doch … ? Bist du … ?« Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, wurde Marcs Stottern mit jedem unvollendeten Satzanfang immer schlimmer.
»Ja?«, fragte die Frau in der Tür. Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn, und sofort prasselten Hunderte von Erinnerungen gleichzeitig auf ihn herein. Ausgelöst durch den Duft des französischen Honigshampoos, das Sandra so sehr geliebt hatte. Sie ist es.
»Du bist … hier?«, fragte er, und sein rechtes Bein begann zu zittern, als hätte er eben einen Hürdenlauf hinter sich. Er streckte die Hand nach ihr aus, wollte durch den Türspalt fassen, um sich
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