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Splitter

Splitter

Titel: Splitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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zu vergewissern, dass er sich nicht mit einem Geist unterhielt. Die Frau wich erschrocken zurück.
    »Was wollen Sie von mir?«
    Statt all der Fragen, die er hatte stellen wollen, brachte er nur ein Wort hervor. »Sandra?«
    »Kennen wir uns?« Die Frau in der Tür kam wieder etwas näher und zog die linke Augenbraue hoch. »Hah.« Er atmete mehr, als dass er lachte. »Warum bist du, ich dachte … Wie kannst du … ?«
    »Entschuldigung, ich habe etwas auf dem Herd«, sagte sie und wollte die Tür wieder zudrücken, doch Marc stellte in letzter Sekunde den Fuß dazwischen. Er spürte, wie seine Zehen gequetscht wurden, und das tat ihm gut, denn der Schmerz verriet, dass es kein Traum war.
    »Ich dachte, du bist tot?«, platzte es aus ihm heraus, und der Frau entglitten vollends die Gesichtszüge. Die Blondine, die so aussah wie seine Ehefrau, die mit dem melodischen Tonfall ihrer Stimme sprach und die das weiße Tanktop trug, das er erst vor wenigen Wochen in dem Geschäft für Umstandsmoden für sie gekauft hatte, stemmte sich jetzt mit aller Macht von innen gegen die Tür und rief um Hilfe.
    »Halt, bitte.«
    Marc drückte dagegen. »Ich bin’s doch, Marc.«
    »Bitte gehen Sie.«
    »Marc Lucas, dein Ehemann.«
    »Ich kenne Sie nicht.«
    »Was? Liebling, ich, du kannst nicht einfach so wieder auftauchen und dann … »
    »Verschwinden Sie.«
    »Aber … »
    »Sofort, oder ich rufe die Polizei.«
    Sie brüllte jetzt, und Marc wich zurück. Zurück vor dem kalten Ausdruck in ihren Augen und vor der bitteren Erkenntnis, dass sie es ernst meinte. Seine Frau, die seit sechs Wochen tot war, hatte keine Ahnung, wem sie gegenüberstand. Sie sah in ihm einen Fremden. Schlimmer. Sie betrachtete ihn mit dem Blick, wie man einen Unbekannten mustert, vor dem man sich fürchtet.
    »Sandra, bitte erklär mir, was … »
    Er kam nicht mehr dazu, den Satz zu vollenden. Marc sprach bereits mit der geschlossenen Tür.
15. Kapitel
    Nicht wahrhaben wollen. Verdrängung. Leugnen. Er wankte kraftlos die Treppenstufen hinunter und fragte sich, ob auch Halluzinationen zu den typischen Begleiterscheinungen der ersten Trauerphase zählten. Dann erinnerte er sich an einen Artikel, der beschrieb, dass diese Phase der Trauer erstaunlicherweise mit der des Sterbens identisch war. Ebenso wie der Hinterbliebene will ein Todkranker in den ersten Wochen die schreckliche Wahrheit nicht akzeptieren. Verdrängung. Leugnen. Vergessen … ?
    Marc klammerte sich am Geländer fest. Nicht nur, weil ihm schwindelig wurde, sondern vor allem, weil er das kühle Holz unter den Fingern spüren wollte. Es fühlte sich im ersten Moment feucht an, sogar etwas unangenehm, als berühre er etwas Totes, aber immerhin spürte er überhaupt etwas.
    Ich lebe. Vielleicht verliere ich den Verstand. Aber ich bin am Leben.
    Dafür waren auch seine Bauchschmerzen ein sicheres Anzeichen. Nach nur wenigen Metern schon hatte er Seitenstechen. Sie waren jedoch nichts im Vergleich zu dem psychischen Schmerz, den Sandras ängstlicher, kalter Blick ihm zugefügt hatte.
    Sie hat mich nicht erkannt.
    Wenn sie es überhaupt gewesen war.
    Marc schleppte sich am Geländer weiter die Treppe nach unten und überlegte, ob sein Gehirn ihm einen Streich spielte. Befand er sich in einem Traum, aus dem er nur aufwachen müsste? Doch was sollte dieser Traum bedeuten? Warum stand ein anderer Name an der Tür, und wieso kam er nicht mehr in seine eigene Wohnung hinein? Und weshalb taten ihm dann immer noch die verdammten Zehen weh, die Sandra in der Tür eingeklemmt hatte?
    Marc blieb stehen, irgendwo zwischen dem ersten und zweiten Stock. Sein Blick fiel auf ein Paar Kinderstiefel, die so aussahen, als warteten sie bereits auf den Nikolaus. Sie gehörten dem einzigen Menschen neben dem Hausverwalter, mit dem er seit seinem Einzug ein paar Worte gewechselt hatte. Emily. Am Wochenende, wenn es nicht regnete, baute sie ihren kleinen Flohmarkt im Hof auf und verkaufte Dinge, die nur in den Augen einer Sechsjährigen einen Wert besaßen. Marc benötigte nichts davon und war dennoch in der kurzen Zeit bereits ihr bester Kunde geworden. Er konnte einfach nicht an Emily vorbeigehen, ohne eine Murmel, einen Dschungelbuch-Bleistiftanspitzer oder ein Bündel getrocknete Blumen zu kaufen. Für einen Augenblick überlegte er, ob er bei ihrer Mutter klingeln sollte. »Entschuldigung? Ich weiß, es hört sich merkwürdig an. Sie kennen mich nicht. Aber können Sie bitte Emily aufwecken? Sie muss meiner toten

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