Splitter
Spalt. Er stieß sie mit dem Fuß vorsichtig auf. Im Inneren seiner Wohnung war es dunkel. »Wo bist du jetzt?«, wollte Valka wissen, der das Knarren der Tür gehört haben musste.
»Bei mir zu Hause«.
Benny trat in die Diele, in der ihn ein kaum wahrnehmbarer, süßlicher Geruch empfing.
»Sehr schön. Dann packst du jetzt deine Sachen, gehst zu deinem beschissenen Auto und bringst den blutenden Müllbeutel noch heute Nacht nach Holland.«
Er nannte Benny eine Adresse in Amsterdam und einen Ansprechpartner. »Wenn Vincent mich bis zwölf Uhr nicht zurückgerufen und den Eingang der Ware bestätigt hat, werde ich dich suchen.«
Benny blieb stehen und wechselte den Hörer von einem Ohr zum anderen. »Zwölf Uhr? Nein, das geht nicht. Ich brauche mehr Zeit.« Er schaltete das Deckenlicht an, und der Geruch wurde stärker. »Sag mal, hör ich mich an wie eine Nutte?«
»Nein.«
»Schön, ich dachte nämlich schon, du willst mich ficken. Ich tu dir einen Gefallen, erlaube dir, deine Schulden abzubauen, anstatt dir mit einem Drucklufttacker deine Hoden zu bearbeiten, und du sagst, du brauchst mehr Zeit? Wer glaubst du, dass du bist?«
»Hör zu, Eddy, bitte gib mir noch einen Tag mehr, damit ich mich von allen verabschieden kann.«
»Von wem denn, du Spinner? Deine Eltern sind tot, dein Bruder hasst dich, und deine Freunde sitzen im Psychoknast.« Valka lachte wieder. »Aber ich dachte mir schon, dass du wieder so etwas sagen würdest, deshalb hab ich eine kleine Überraschung für dich organisiert. Eine, die dir den Ernst der Lage verdeutlichen wird.«
Benny schloss die Augen - und erfasste plötzlich die grauenhafte Bedeutung des Geruchs.
36. Kapitel
Überlebende eines Flugzeugabsturzes, eines Bombenattentats, eines Autounfalls oder sonst eines lebensbedrohenden Ereignisses sagen oftmals aus, sie hätten den Moment der Katastrophe wie in Zeitlupe wahrgenommen. So als hätte die Explosion, der Ausbruch des Feuers oder der Zusammenstoß ein Loch in die Zeit gerissen und sie stellenweise sogar zum Stillstand gebracht. Marc begriff in dieser Sekunde die Ursache für dieses Wahrnehmungsphänomen: Das menschliche Gehirn ist im Augenblick einer tödlichen Bedrohung nicht mehr in der Lage, alle Eindrücke auf einmal wahrzunehmen, geschweige denn, die Abfolge der Ereignisse in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen.
Marc sah den hellerleuchteten Krankenwagen, seine dreckigen Schweinwerfer, die lautlos zuckenden Signallampen auf dem Dach und die offen stehenden Türen zur hinteren Ladefläche. Er registrierte den bärtigen Pfleger mit dem weißen Kittel, der etwas in der linken Hand hielt, während er versuchte, Emma aus dem Käfer zu ziehen. Er nahm sogar von unbedeutenden Details Notiz, wie dem blutroten Reflexionsstreifen an den Seiten des Kastenwagens oder der rosenkranzähnlichen Kette, die vom Rückspiegel im Takt zu den zuckenden Warnsignallampen zu baumeln schien. Marc hörte auch den Dieselmotor, dessen Blubbern sich mit dem des Käfers mischte, und wunderte sich noch, weshalb Emma keinen Ton von sich gab, bis sie endlich anfing, laut um Hilfe zu schreien. Höchstwahrscheinlich geschah das alles nur einen Sekundenbruchteil versetzt, nachdem der Bärtige ihr eine Ohrfeige gegeben hatte, wodurch ihre Brille auf den Asphalt geschleudert wurde.
Nun erschien auch eine dritte Person auf der Bildfläche, die er zunächst wegen der zum Pferdeschwanz gebundenen Haare und ihrer eher zierlichen Statur für eine Frau hielt, bis er in ihr einen jungen Mann erkannte.
»Hey!«, brüllte Marc und zwängte sich rücklings aus seinem Wagen. »Loslassen!«
Die Gummisohlen seiner Turnschuhe rutschten auf einem kleinen Laubhaufen aus, als er ihr zu Hilfe eilen wollte. Mittlerweile war es dem Bärtigen gelungen, Emmas massigen Körper vom Fahrersitz zu wuchten, so dass sie leicht benommen neben das Auto torkelte. Es dauerte noch nicht einmal einen Wimpernschlag, da hatte der Pfleger sie bereits am Arm hochgerissen und sie mit der Brust voran gegen den Krankenwagen gepresst.
»Nun mach schon«, brüllte der Angreifer dem Langhaarigen zu, der unschlüssig wirkte, um wen er sich zuerst kümmern sollte. Doch dann schrie Emmas Entführer noch einmal doppelt so laut und deutete mit dem Kopf nach unten.
Was immer er bislang in der Hand gehalten hatte, war ihm beim Kampf heruntergefallen. Offensichtlich benötigte er es, um Emma ruhigzustellen, die langsam wieder einen klaren Kopf bekam und wild um sich trat. Der Mann hatte
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