Splitterndes Glas - Kriminalroman
an. »Sie sind Journalistin, sagt Natalie.«
»Ja. Für den Rundfunk.«
»Und was wollen Sie machen? Einen Beitrag über Stella?«
»Nein, das ist nicht ganz richtig. Mein Bruder hat an ihrer Biografie geschrieben, als er starb.«
|196| »Der Tod Ihres Bruders tut mir leid.« Mit einer schnellen routinierten Bewegung bekreuzigte Rocca sich. »Werden Sie sein Buch vollenden? Als Erinnerung an ihn?«
Lesley lächelte halb. »Vielleicht. Etwas in der Art, ja.«
»Das ist gut.«
Irgendwo im Haus begann Musik zu spielen. Zuerst laut, dann etwas leiser. Samba? Bossa nova? Lesley wusste es nicht.
»Meine Tochter, Savia. Sie wohnt bis zum Sommer bei mir. Während sie Englisch lernt.« Rocca verdrehte die Augen zur Decke, als wollte er die Fadenscheinigkeit dieses Vorhabens verdeutlichen. »Aber sie sitzt nur in ihrem Zimmer und spielt diese Musik. Schreibt eine SMS nach der anderen an ihre Freunde zu Hause.« Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Neulich sage ich zu ihr, geh mit mir zu dieser Filmpremiere. Am Leicester Square. Brad Pitt. Angelina. Viele Stars. Aber nein. Sie will nicht mitkommen. Ich frage sie, warum, und sie sagt, es ist langweilig. ›Boring‹, das einzige englische Wort außer ›Fuck you‹ und ›Big Brother‹, das sie gelernt hat.« Er schüttelte noch einmal den Kopf. »Sie weiß nicht, dass sie geboren wurde.«
Zurückgelehnt, einen Arm auf der Rückenlehne des Sofas ausgestreckt, genoss er ein paar Momente der Verzweiflung.
Lesley nahm einen Schluck Wein und stellte das Glas ab.
»Ich habe sie nur ein Mal getroffen«, sagte Rocca. »Stella Leonard. Bei einem Festival in Dinard. Dort gab es eine Retrospektive ihrer Filme. Das meiste … war schlecht, nichts Besonderes, ohne …«, er zuckte die Achseln, »ohne Feuer im Bauch. Sauertöpfisch, verstehen Sie? Verklemmt. Wenn sie sich küssen, die Leute auf der Leinwand, küssen sie mit geschlossenem Mund. Wenn sie vögeln, behalten sie die |197| Kleider an. Nur, dass sie natürlich überhaupt nicht vögeln. So war das hier in dieser Zeit. Um 1955. Die Schauspieler, die Charaktere sind wie Barbie und Ken. Hier haben sie gar nichts.« Er griff sich beherzt zwischen die Beine. »Keinen Schwanz, keine Eier, keine Möse. Nur Stella. Besonders in ›Splitterndes Glas‹. Sie war eine Frau, verstehen Sie? Eine echte Frau. Man kann sie riechen, wenn sie auf der Leinwand ist. Sie schwitzt, sie blutet. Man glaubt das. Sie lässt einen das glauben. Man kann es in ihrem Gesicht, in ihren Augen sehen.«
Roccas eigene Augen strahlten so, waren so groß, dass Lesley wegsehen musste. Er beugte sich vor und berührte ihr Bein direkt über dem Knie und unwillkürlich fuhr sie zusammen.
Rocca lachte.
»Ich war noch jung«, sagte er. »Etwas über zwanzig. Ein Junge. Ich hatte einen oder zwei Kurzfilme gemacht. Hatte Drehbücher geschrieben, die nicht verfilmt wurden. Eins war über eine Frau in einem gewissen Alter, die weiß, dass sie bald sterben wird, die aber immer noch schön ist. Sie ist von einem jungen Mann besessen, der in der Nähe lebt, einem Pianisten. Es sind seine Hände, sie liebt seine Hände. Sie möchte mit ihm schlafen, bevor sie stirbt. Möchte, dass er mit ihr schläft. Möchte diese Hände auf ihrem Körper spüren. Ich frage Stella, ob sie mir den Gefallen tut und das Drehbuch liest. Sie hat Mitleid mit mir, glaube ich. Oder vielleicht findet auch sie alles langweilig. Wieder dieses Wort. So oder so, sie sagt, ich soll ihr das Drehbuch ins Hotelzimmer bringen. Als ich ankomme, sitzt sie da, sehr korrekt gekleidet, zurückhaltend, nicht mehr jung. Sie sitzt auf der Chaiselongue mit einer Wolldecke über den Knien, denn trotz der Hitze in dem Raum friert sie. Und dann beginnt sie zu lesen. Als ob ich gar nicht da bin.
|198| »Nach einer Weile sieht sie auf und sagt: ›Setz dich zu mir‹ und klopft auf die Polsterung neben sich, also gehe ich und setze mich – ein bisschen nervös, aber ich sitze da, und ihre Augen kehren zu dem Drehbuch zurück und sie liest noch weiter und dann sagt sie: ›Bin ich das?‹ Und ich sage: ›Was meinen Sie?‹, und sie sagt: ›Bin ich das? Diese Frau hier?‹, und ich sage: ›Ich glaube, Sie können sie spielen, ja. Ich glaube, es ist eine wunderbare Rolle für Sie.‹ Also sieht sie mich an, sieht mir ins Gesicht und sagt: ›Bist du das? Dieser Junge?‹ Und als ich den Kopf schüttle, lacht sie und sagt: ›Zeig mir deine Hände.‹«
Rocca machte eine Pause und sah Lesley über
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