Splitternest
Gefühl leiten lassen. Und doch war der Weg ihm nun fremd, und gefährlicher als zuvor. Die Gänge schwelten, die Flammen sprangen von den Mauern und drohten Baniters Kleider zu entzünden. Er durchschritt sie hastig und vertraute darauf, bald den Ausgang zu finden. Ich habe den Schwarzen Schlüssel in meinen Händen gehalten, Mondschlund meine Stimme geliehen, die Stadt aller Städte erweckt … dann werde ich ja wohl nach Vara zurückfinden!
Er fragte sich allerdings, was ihn dort erwartete. Wenn Vara tatsächlich mit der unterirdischen Stadt verschmolzen war, würde er es kaum wieder erkennen. Würden die Schatten und Geister des Verlieses in den Gassen umherspuken? Würden Sardreshs bizarre Bauten das Stadtbild beherrschen? Waren sie aus der Tiefe emporgewuchert, um die alten Häuserzeilen zu ersetzen? Hatte sich der Silberne Dom in jene funkelnde Pagode verwandelt, an deren Fuß er mit Bathos dem Scharfzüngigen gesprochen hatte?
Was immer geschehen sein mag – ein Stück des alten Vara lebt in dem neuen fort. Vara ist und bleibt die Stadt meiner Vorväter, die Wiege der Geneder.
Er wich einer Stichflamme aus, die aus der Wand schlug. In dem flackernden Licht sah er Luchszeichen aufschimmern … die Schrift des Verlieses, in Gold auf die Mauern gezeichnet. Er blieb stehen und versuchte die Zeichen zu lesen. Doch er konnte keinen Sinn in ihnen erkennen. Die Macht des Verlieses war vergangen. Nhordukaels Feuer hatten sie zerstört, und eine fremde Macht lockte die Schatten fort, die der Schwarze Schlüssel erschaffen hatte. Noch sah Baniter sie durch die Gänge huschen; schwarze Konturen, die sich auf den Wänden krümmten, als wären sie auf der Flucht. Sie folgten einem Ruf, den er nicht hören konnte. Aber dies war ihm nur recht. Er wollte das Verlies ein letztes Mal durchschreiten und dann Frieden finden in jener Stadt, die seine Heimat war.
Vergiß nicht, wer sie erbaute. Vergiß nicht, wer für ihre Wandlung verantwortlich ist.
Er musste an Sinsala denken, seine älteste Tochter. Es war immer sein Traum gewesen, die Schmach, die sein Großvater über die Familie gebracht hatte, zu tilgen und ihr das vereinigte Ganata zu hinterlassen. Sinsala hätte ihm nachfolgen sollen, um ihren Hals die Fürstenkette der Geneder. Dann hätte Baniter sie mit dem Sohn oder Neffen eines anderen Fürsten vermählt, um seine Familie in den Zirkel der Macht zurückzuführen. Er hatte vieles dafür getan; manches, auf das er stolz, und vieles, auf das er weniger stolz war. Nun würde die Rückkehr der Geneder nur ein Traum bleiben, eine bloße Geschichte, ebenso falsch wie die Legenden jenes Buchs, aus dem er gelesen hatte; eine Legende von falschem Ehrgeiz und falsch verstandener Pflicht. Und doch hatte Baniter sie gelebt, so lange und leidenschaftlich. Ich hoffe, dass dir dieser Weg erspart bleibt, Sinsala. Wenn Sternengänger sein Versprechen halt, wird er dich und deine Schwestern zu seiner neuen Welt bringen. Dann beginne ein Leben, das nicht verflucht ist von dem Namen Geneder. Ich aber muss verhindern, dass Vara zugrunde geht. Das bin ich dieser Stadt schuldig.
Er ging weiter, ohne noch einen Blick an die Luchsschrift zu verschwenden. Sie hatte keine Bedeutung mehr, nicht für ihn, nicht für Gharax. Hinter ihm loderten die Flammen auf, und die goldenen Zeichen zerschmolzen auf den Wänden wie seine Hoffnungen.
Bald gabelte sich der Gang. Baniter verharrte an der Kreuzung und überlegte, welche Richtung er einschlagen sollte. Er lauschte – und hörte plötzlich ein Rufen.
»Baniter … Geneder!«
Die Stimme drang aus dem linken Gang. Er war dunkel; Nhordukaels Feuer hatten ihn noch nicht erreicht. Jemand rief kläglich Baniters Namen, wieder und wieder.
»Baniter … Geneder …«
Vorsichtig ging er dem Rufenden entgegen. Das Schimmern des Mooses begrüßte ihn. Seine Augen gewöhnten sich langsam an das verhaltene Licht. Der Gang führte aufwärts und wand sich wie eine Schlange. Der Boden war feucht, Baniters Schritte federten auf Schlamm. Ein modriger Geruch drang in seine Nase. Er glaubte, hinter den Wänden Wasser plätschern zu hören.
»Baniter … Geneder!«
Dort kauerte eine Gestalt. Sie zitterte; den Kopf presste sie an die feuchte Mauer. Es war ein Mann; er hatte ein gelbes Tuch um die Lenden gewickelt, doch dieses hatte sich halb gelöst, legte den mageren Leib bloß. Faltige Haut, die Arme aber waren sehnig und kräftig. In den Händen lag ein gewundener Säbel.
Nun rief er ein weiteres Mal
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