Splitternest
über dem Dumer; bunt sein Federkleid, die Schwingen groß und schwer. Behäbig glitt er durch die Lüfte, als wäre er nicht aus Haut und Knochen, sondern aus Stein … dem Felsen entsprungen, um den Himmel zu erkunden.
Er kreiste gemächlich über dem Fluss. Seine Augen wanderten über das glitzernde Wasser. Suchte er etwas in den Wellen? Trauerte er um den kostbaren Schatz, der ihm vor langer Zeit geraubt worden war?
In der Ferne schimmerte das Splitternest, die Scherben grell wie das Gefieder des Vogels. Er schüttelte es. Klirrend schlugen die Spitzen der Federn aneinander. Funkelnder Staub rieselte von den Flügeln. Doch er verlor sich im Wind wie sein Klageruf.
Unten am Flussufer war nichts zu hören. Sein Lied war nicht bestimmt für die Menschen; ihre Ohren waren taub für die alten Klänge der Sphäre. Denn sie waren es, die zum Splitternest hinabdrangen: Rufe aus der Vergangenheit, als die Quellen frei gewesen waren. Sie wehten in den Sphärenströmen als Erinnerungen an die Zeit vor Sternengängers Herrschaft – so wie Suuls Hauch im Ostmeer blies, wie der Wind durch die Singenden Weiden von Candacar strich und der Schatten der Weinenden Mauer von Siccelda über die bleichen Felsen kroch.
Die Quellen vergaßen nichts. Sie hielten die Erinnerung wach.
Der Vogel aber flog weiter. Sein Gefieder verblasste in den Wolken. Er entrückte der Welt und kehrte in die Sphäre zurück. Noch war er zu schwach, um länger auf Gharax zu verweilen.
Doch so viele Quellen hatten ihre Fesseln abgestreift. Die Magie floss wieder frei durch die Sphäre, und bald würde der Vogel zurückkehren und seine Suche fortsetzen. Er würde das Ei finden, das ihm geraubt worden war, und zum Splitternest herabsinken, um es auszubrüten.
Eine neue Quelle. Eine neue Welt jenseits der Sphäre.
Eine neue Legende, die sich die Menschen einst erzählen würden.
Sand wirbelte unter ihren Füßen auf. Sie hasteten am Fluss-Strand entlang, atemlos, mit schreckgeweiteten Augen. Sinsala hatte ihre kleine Schwester abgesetzt. Marisa gab sich alle Mühe mitzuhalten, doch sie keuchte schwer.
»Kommt doch, kommt!« Banja war wie immer die Schnellste. Sie rannte wie ein junger Luchs, ihre blonden Haare wirbelten im Wind. Das Rauschen des Dumers feuerte sie an; immer schneller rannte sie, schneller und schneller …
»Haltet nicht inne«, stieß sie hervor, »blickt nicht zurück.« Es waren Orusits Worte. Nun, da sie sich von Gehani entfernten, begriff Banja, dass sie ihn nicht wieder sehen würde. Nie mehr. Nicht ihn. Nicht Hjele. Nicht die Burg. Welch seltsame Vorstellung …
»Kommt doch!«
In der Ferne wartete der Hügel mit den rauschenden Birken. Banja sah sich nach ihren Schwestern um. Sie erhaschte ein Lächeln auf Marisas Gesicht, ließ sich zurückfallen, nahm die Kleine an die Hand.
»Bald sind wir bei Mama. Dann kann uns keiner von ihr trennen!«
Der Wind jauchzte über ihnen; er teilte ihre Freude.
Das Splitternest war nah.
Talomar stieß die Tür auf. Sein Gesicht war wie versteinert. Mit ihm drängten sich mehrere Pfortenritter in die Kammer.
Auf dem Boden saß Orusit Geneder. Er hatte den Kopf gegen den Bettpfosten gelegt und sah zu den Rittern auf. Die fehlenden Zähne verliehen seinem Lächeln etwas Verschmitztes.
Im Bett lag die Greisin. Ihr Mund und die Augen waren offen, der Blick war starr. Talomar erkannte sofort, dass Hjele Geneder tot war.
»Steh auf!« befahl er Orusit.
Der alte Mann versuchte sich zu erheben, doch seine Knie gaben nach. Er stützte zu Boden ab, hustete trocken.
»Wart Ihr erfolgreich, Talomar? Das freut mich … ja, wirklich. Es ist gut, dass die Bathaquar vernichtet ist. Ohne Euch wären wir verloren gewesen. Wir …«
Talomar ohrfeigte ihn. »Halte mich nicht zum Narren! Du hast mich betrogen. Wo sind die Kinder? Hast du sie versteckt?«
Orusit wischte sich das Blut von den Lippen. »Woher soll ich wissen, was die Gören tun? Ich war ja die ganze Zeit hier, bei meiner Schwägerin. Ich habe ihr die Hand gehalten, bis zum letzten Atemzug.«
Talomar spähte auf das verzerrte Gesicht der Toten. »Sie starb keinen friedlichen Tod. Den wirst auch du nicht haben.« Er zog ein Messer vom Gürtel. »Sechs Pfortenritter sind gefallen, um Gehani zu befreien. Wofür, Orusit? Damit ich mich von dir täuschen lasse? Sprich endlich! Es ist mein Recht zu erfahren, wo die Mädchen sind.«
»Dein Recht?« Wieder versuchte Orusit aufzustehen, aber die Beine rutschten fort. »Glaubst du, einen
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