Splitternest
Anspruch auf sie zu haben, weil du einst ihre Mutter geliebt hast? Vergiß nicht, Jundala war Baniters Frau, nicht deine.« Er blickte auf das Bett. »Ich habe selbst die Frau eines anderen geliebt, viele Jahre lang. Aber nie hätte ich gewagt, sie ihm fortzunehmen. Ich kannte meine Pflichten. Kennst du die deinen, Talomar?«
Der Ritter packte Orusit am Bein. Dann zog er das Messer quer über die Sehne hinter seinem Knie. Der feste Hosenstoff zerriss, und ein schmirgelndes Geräusch war zu hören.
Orusit brüllte vor Schmerz.
»Was weißt du schon von mir und Jundala? Was weißt du von Liebe?« Talomar schäumte vor Wut. »Jahrelang habe ich mich auf Aroc verkrochen, in grimmiger Kälte, damit das Brennen in meinem Herzen erlischt, dieses Feuer, diese quälende Flamme. Aber Suuls Hauch war nicht eisig genug! Ich konnte Sinsala nicht vergessen, ich konnte …« Er hielt erschrocken inne.
»Sinsala? Sie ist noch ein Kind!« Orusit starrte den Ritter voller Verachtung an. »Und ihre Mutter hat dich nie geliebt, begreifst du das nicht? Sie vergaß dich am selben Tag, als du fortgingst.«
Die Klinge in Talomars Hand zitterte. »Sie gehört mir. Und du wirst mir sagen, wo sie ist, wenn du nicht ganz zum Krüppel werden willst! Sprich endlich!«
Hinter ihm polterten Schritte. Ein weiterer Pfortenritter stürmte in die Kammer.
»Wir wissen, wo die Mädchen sind, Talomar! Der Wächter am Tor hat gesungen … er half ihnen, aus der Burg zu entkommen. Sie flohen zum Dumer!«
Talomars Gesichtszüge entspannten sich. »Zum Dumer«, flüsterte er. »Dann finde ich sie. Sie werden dem Ufer folgen und Spuren hinterlassen … ja, gewiss.«
»Du kommst zu spät«, keuchte Orusit. »Sie sind längst bei ihrer Mutter … du kannst sie nicht aufhalten.«
Talomar betrachtete die Klinge in seiner Hand. »Du willst mich wohl quälen, alter Mann. Jundala ist tot. Ich habe sie verloren.«
Er stieß zu.
Orusit sackte zusammen, sein Kopf prallte auf den Boden. Im Tod glich er Hjele, sein Blick starr und voller Furcht.
Talomar warf das Messer fort. »Sattelt mir ein Pferd. Ich werde die Mädchen einholen.«
Jundala Geneder schreckte auf.
Stimmen! Ja, dieses Mal war sie sich sicher. Jemand erklomm den Hügel und kämpfte sich zum Splitternest empor.
Es müssen die Mädchen sein! Sie stand auf. Ringsum funkelten die Steinscherben. Ihr Tanz wirkte erhaben. Langsam wanderten sie um den Krater, von den Mächten der Sphäre gelenkt. Sie umkreisten Jundala, als wollten sie sie verehren.
Stehe mir bei, Laghanos … lass es nicht zu, dass sie mich fürchten, dass der Anblick meiner Augen sie zurückschrecken lässt. Ich liebe sie so sehr … bring sie zu mir!
Sehnsüchtig blickte sie zum Rand des Kraters. Die Sphäre verzerrte ihre Sicht; die goldenen Augen zeigten ihr die Umgebung in fremden Farben, die nicht von der Sonne, sondern von den magischen Strömen geweckt wurden, die in wundervollen Mustern zum Himmel aufstiegen und in das Splitternest zurücksanken, so wie Wellen aus Licht. Für Jundala war das Splitternest ein See der Farben, magisch und tückisch, gefährlich und schön, erschaffen durch den Abdruck des Wanderstabs, den Durta Slargin einst in den Krater gebohrt hatte.
Du hast mir die Augen geöffnet. Deiner Spur folge ich. Du bist mein Schicksal.
Nun hörte sie die Kinder rufen, mit hellen, fröhlichen Stimmen. Dort waren sie: Marisa! Banja! Und Sinsala, ihre schöne, kluge Sinsala!
Jundalas Lippen zitterten, während sie die Namen ihrer Töchter murmelte. Sie hob abwehrend die Hände.
»Wartet!«
Ringsum sanken die Scherben herab, unterbrachen ihren scharrenden Tanz.
»Jetzt … dürft ihr zu mir kommen!«
Die Mädchen wagten sich näher. Marisa war die erste, die in den Krater hinab kletterte und sich Jundala in die Arme warf.
»Mama, endlich sind wir bei dir«, die Worte sprudelten nur so aus ihrem Mund, »es war furchtbar in Gehani, ganz schlimm, mir hat das Herz so geklopft auf dem Turm, als der Priester diese furchtbaren Dinge sagte und tat. Ich dachte, wir sehen dich nie wieder, Mama, nie wieder …«
Jundala strich ihr über das Haar und küsste sie. Dann blickte sie auf Sinsala und Banja. Beide waren zu ihr hinabgeklettert. Sinsala verharrte schüchtern an der Seite ihrer jüngeren Schwester, einige Schritte von der Mutter entfernt.
»Komm zu mir, Sinsala.« Jundala schob Marisa zur Seite. »Wie schön du bist, und wie groß! Bist du ein Stück gewachsen?« Sie tastete nach Sinsalas Hand. »Nun seid
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