Splitterwelten 01 - Zeichen
nicht wahr?«
»Was denn?« Sie sandte dem Sarkophag einen despektierlichen Blick, wobei sie sich mit jugendlicher Kokettheit durch das blonde Haar fuhr. »Bist du etwa eifersüchtig? Nach all den Jahren?«
»Nein, aber ich habe dich fürchten gelernt«, drang es aus der Truhe, »dich und deinen Ehrgeiz.«
»Mein Ehrgeiz hat mich vorangebracht«, verteidigte sie sich. »Er hat mich durch dunkle Zeiten getragen und mich dorthin gebracht, wo ich jetzt bin. Und er wird mich auch weiter tragen, meiner Bestimmung entgegen.«
»Sei gewarnt«, sagte die Stimme nur. »Hochmut kommt vor dem Fall, wie es bei den Menschen heißt. Und damit haben sie ausnahmsweise einmal recht.«
»Und das sagst ausgerechnet du? Einst hast du geglaubt, mich aufhalten zu können – und nun bezahlst du den Preis dafür, auf Ewigkeit lebendig begraben.«
»Glaubst du, du müsstest keinen Preis bezahlen für das, was du getan hast?«, drang es aus dem Sarkophag. »Hohe Ziele erfordern Opfer – gerade du solltest das wissen.«
Harona lachte spöttisch auf und strich sich abermals durch das Haar – nur um festzustellen, dass es sich büschelweise von ihrem Kopf löste! »Nein! Nein!«, schrie sie und versuchte verzweifelt, ihre Haarpracht festzuhalten, als hinter ihr eine Tür geöffnet wurde.
Die Kammer verschwand, ebenso wie der Sarkophag und die Fenster, exakt in dem Augenblick, da ihre Füße den Boden berührten und ihr Geist ins Hier und Jetzt zurückkehrte.
»Gildemeisterin?«
Sie fuhr herum.
Auf der Schwelle der Amtsräume, die einst den königlichen Hausmeier beherbergt hatten und nun ihr zur Verfügung standen, erschien ein schmächtiger Diener, einen Ausdruck heilloser Furcht im blassen Gesicht.
»Inquisitorin?«
»Was gibt es?«
»Ihr wolltet gerufen werden, wenn die Feuer brennen. Es ist so weit.«
Harona hatte nie verstanden, weshalb die Erhabene Schwester den Weg guten Einvernehmens suchte, wenn es doch um so vieles einfacher war, sich die Menschen mit Furcht gefügig zu machen. Ungleich weniger Aufwand war dazu nötig, und das Ergebnis war sehr viel effektiver.
Aber auch das würde sich bald ändern.
So wie alles im Begriff war, sich zu verändern.
Die numerata griff nach ihrem Umhang und legte ihn sich um, dann trat sie nach draußen, eine hagere, von schwarzem Stoff umwehte Gestalt, die innerhalb kürzester Zeit zum Inbegriff des Schreckens im Palast geworden war.
Schon von Weitem konnte sie den Widerschein der Flammen sehen, der durch die hohen Fenster drang.
Und sie hörte die Schreie.
Über die breite Treppe gelangte sie in die Eingangshalle, von dort nach draußen auf den Richtplatz – und ihr Innerstes atmete zufrieden auf, als sie die Feuer erblickte.
Es waren drei.
Harona kannte ihre Namen nicht.
Vermutlich waren es Hofbeamte, Männer von niederem Adel, die gehofft hatten, sich durch Dienst am Hof des Königs eine Sonderstellung zu erwerben. Ihr Pech war es gewesen, dass sie zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren – oder auch genau am richtigen, es kam auf den Standpunkt an. Aus Haronas Sicht spielte es keine Rolle, wer dort auf dem Scheiterhaufen brannte. Es kam auf die Wirkung an, die diese Feuer erzeugten, auf den Eindruck, den sie bei denen hinterließen, die sich zu Hunderten versammelt hatten und in die Flammen starrten. Mit Genugtuung sah Harona das Grauen in ihren Gesichtern, ihre in stillem Entsetzen geöffneten Münder, die Furcht in ihren Augen. Jedem einzelnen von ihnen, ob Knecht, Soldat oder von hohem Adel, war inzwischen bewusst geworden, dass ein neues Zeitalter angebrochen war.
»Die Inquisitorin kommt! Die Inquisitorin!«
Sie hatte den Kordon der Schaulustigen, die sich rings um das grausige Schauspiel geschart hatten, noch nicht erreicht, als die Menschen bereits vor ihr zur Seite wichen.
Kaum jemand wagte es, ihr ins Gesicht zu blicken. Die meisten starrten zu Boden, um nicht den Verdacht der Ketzerei auf sich zu lenken. Animalen, Caniden, die als Leibeigene auf Tridentia weilten, ergriffen jaulend die Flucht. Lediglich die Kinder schienen noch nicht zu wissen, wer die geheimnisvolle Frau in Schwarz eigentlich war, aber auch sie würden es bald erfahren. Harona hatte verfügen lassen, dass die Kinder den Verbrennungen beizuwohnen hatten.
Ganz vorn, wo die Hitze der Flammen bereits schmerzte, stand eine weitere schlanke Gestalt, die die Robe der Schwesternschaft trug. Bewaffnete Wächter standen bei ihr, doch sie hätte dieser Unterstützung nicht bedurft. Zufrieden
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