Splitterwelten 01 - Zeichen
stellte Harona fest, dass man ihrer Schülerin fast mit derselben Mischung aus Furcht und Vorsicht begegnete wie ihr selbst. »Inquisitorin.« Prisca verbeugte sich, als Harona neben sie trat, wandte ihren Blick jedoch nicht von der Feuersbrunst. Ihre sonst so blassen Züge waren gerötet – ob vor Erregung oder infolge der Hitze der Flammen war nicht festzustellen.
»Nun?«, fragte die Gildemeisterin nur.
»Ich habe getan, was Ihr mir aufgegeben habt. Die Überführten wurden gerichtet.«
»Sehr gut.« Harona blickte an den Stangen empor, die aus dem Meer der Flammen in den nächtlichen Himmel ragten. Hier und dort glaubte sie noch zu sehen, wie sich etwas inmitten des lodernden Feuers regte, doch vermutlich war es nur eine Täuschung. Die Schreie waren bereits verstummt, und der bittere Geruch, der über dem Richtplatz lag, verriet, dass die Delinquenten ihre Strafe erhalten hatten.
»Was empfindest du, Schülerin?«, fragte Harona.
Prisca stand völlig reglos.
»Verspürst du Mitleid mit diesen Kreaturen? Oder bereust du gar, was du getan hast?«
Prisca sah ihre Meisterin direkt an. Im Schein der lodernden Flammen konnte Harona deutlich den Schrecken erkennen, den die Hinrichtung in Priscas Zügen hinterlassen hatte.
»Nein«, beteuerte die Schülerin.
»Bist du sicher?«
»Diese elenden Kreaturen hatten ihre Chance, sich zwischen Licht und Finsternis zu entscheiden. Sie haben das Nox gewählt.« Prisca schwieg einen Augenblick. »Ich verspüre Zufriedenheit. Die Zufriedenheit, Euch und der Gilde dienen zu dürfen, Inquisitorin.«
»Gut gesprochen.« Harona nickte. »Ich wusste stets, dass ich mich auf dich verlassen kann, meine Elevin – die du ab heute keine Elevin mehr bist.«
Der Ausdruck in Priscas Gesicht wechselte von stillem Entsetzen in maßloses Erstaunen.
»Was … meint Ihr damit?«
»Was du heute getan hast, hat dir den ersten Grad der Reife eingetragen.«
»Den ersten Grad der Reife«, hauchte sie atemlos. »Aber das bedeutet, dass …«
»Dass du nun ein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft bist, mit allen Rechten und Pflichten«, bestätigte Harona.
»Aber – ich glaubte, nur die Erhabene Schwester kann dies …?«
»Die Erhabene Schwester teilt meine Einschätzung«, erklärte Harona nur. »Die Windweihe wird schon in Kürze vorgenommen.«
Sie genoss es zu sehen, was im Gesicht ihrer ehemaligen Schülerin vor sich ging, denn es erinnerte sie an sich selbst, als sie in Priscas Alter gewesen war. Auch sie hatte damals den ersten Reifegrad erlangt, zu einer Gelegenheit, die dieser nicht unähnlich gewesen war.
»Ich gratuliere dir, mein Kind«, fuhr sie fort, und etwas leiser fügte sie hinzu: »Und ich rate dir, niemals zu vergessen, wer dir diese Gunst zuteilwerden ließ.«
»Das werde ich nicht«, versicherte Prisca und sank vor der numerata auf die Knie, ergriff ihre Hand und küsste sie.
»Und nun?«, fragte Harona, nachdem sie sich wieder erhoben hatte. »Was empfindest du nun?«
»Stolz«, antwortete Prisca ohne Zögern, und mit Genugtuung entdeckte Harona in ihren Augen das Blitzen von jemandem, der Blut geleckt hatte, den unverhohlenen Hunger nach mehr. »Ich habe das Gefühl, dass alles möglich ist.«
»Diene mir auch weiterhin«, sprach Harona ihr zu, »und ich werde dir vieles ermöglichen. Die Gilde braucht junge Menschen, die die Notwendigkeit harter Entscheidungen begreifen, heute mehr als zu jeder anderen Zeit.«
»Ich habe es Euch schon einmal gesagt, und ich sage es Euch wieder«, erklärte Prisca. »Ihr könnt jederzeit auf mich zählen.«
»Ich weiß«, entgegnete Harona nur.
17. Kapitel
»Kalliope?«
Es war nicht der Klang ihres Namens, der Kalliope aufschreckte, sondern die Stimme, die ihn rief. Unter allen Menschen, die auf diesem elenden Klumpen Eis ihr Dasein fristeten, wollte sie ihn am allerwenigsten sehen.
Er hatte sie enttäuscht, und in den Stunden, die sie allein verbracht hatte, um wieder zu sich zu finden und das Gleichgewicht zurückzuerlangen, das sein Vater ihr so brutal geraubt hatte, war sie zu der Einsicht gelangt, dass es ein Fehler gewesen war, mit ihm zusammenzuarbeiten.
Statt allein zu bleiben und sich selbst zu genügen, wie es einer Gildeschwester zukam, hatte sie den Kontakt zu einem Fremden gesucht, im Ansatz sogar Vertrauen zu ihm gefasst. Ein Vergehen, das sich bitter gerächt hatte.
»Geht fort!«, rief sie barsch über die Schulter zurück, während sie auf der Turmplattform stand. Die Kapuze ihres Gewandes
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