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Splitterwelten 01 - Zeichen

Splitterwelten 01 - Zeichen

Titel: Splitterwelten 01 - Zeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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abgrundtief war die Verwirrung, in die Eriks unerwartete Enthüllung sie gestürzt hatte.
    Der Prinz von Jordråk war kein Mensch.
    Was dies zu bedeuten hatte, vermochte Kalliope noch nicht annähernd zu ermessen. Sie wusste nur, dass sie getäuscht worden war und entsprechend tief verletzt – und weit davon entfernt, im Gleichgewicht zu sein. Oben und unten, hell und dunkel, richtig und falsch – alles schien im Fluss begriffen. Und während Kalliope versuchte, in dem Durcheinander an Gefühlen und Empfindungen den Überblick zu wahren, fragte sie sich immer wieder, wie Erik sie so hatte täuschen, wie er eine solche Wahrheit überhaupt vor ihr hatte verbergen können.
    Seit Anbeginn der Welten gab es zwei Arten von Lebewesen, Menschen und Tiere. Beide waren im Schöpfungsplan vorgesehen, nicht jedoch die Animalen, die erst später hinzugekommen und aus einer frevlerischen Kreuzung beider Arten entstanden waren. Von allen Kreaturen des Sanktuarions jedoch war die Chimäre die verachtenswerteste, denn nach außen gab sie vor, ein Mensch zu sein, vereinigte in sich jedoch die Eigenschaften eines Tieres. Weder besaß sie eine Seele noch hatte sie ein Gewissen, weshalb ein uralter, noch aus den Tagen der primae stammender Grundsatz besagte, dass Gildeschwestern sich von ihnen fernhalten sollten, da sie unrein waren und mit der Sünde ihrer Existenz behaftet. Wie hatte Erik ihr dies nur vorenthalten können? Wie hatte sie nicht merken können, dass er eine Kreatur ohne Seele war? Die ganze Zeit über hatte sie geglaubt, dass der lederne Handschuh an seiner Rechten nur der Falkenjagd diene – nun hatte er sich als Maskerade herausgestellt, als dreiste Täuschung, und Kalliope hatte plötzlich das Gefühl gehabt, einem Fremden gegenüberzustehen.
    Diese Erkenntnis wirkte noch immer nach. Sie war die Ursache der Verwirrung, die Kalliope empfand, denn zu ihrem eigenen Entsetzen war ihre Sympathie für den Prinzen Jordråks nicht in dem Augenblick erloschen, da er ihr die Wahrheit offenbarte. Stattdessen ertappte sie sich dabei, dass sie Mitgefühl für ihn hegte, obschon sein Verhalten ebenso verwerflich war wie seine Herkunft. Kalliope wusste, dass dies einer Gildeschwester unwürdig war, dass der Rat der numeratae sie dafür gerügt, womöglich gar aus der Gemeinschaft ausgeschlossen hätte, und sie schalt sich eine Närrin dafür. Eine Chimäre, auch das war allgemein bekannt, war nicht in der Lage, Zuneigung zu empfinden, ebenso wenig wie Mitgefühl oder Reue.
    Aber es war nicht zu leugnen, dass unter den vielen Gefühlen, die sie empfand, auch Schmerz war. Schmerz darüber, dass sie einen Freund verloren hatte, den einzigen wirklichen Verbündeten, den sie auf dieser Welt gehabt hatte – oder war auch das nur Täuschung gewesen? Kalliope wusste es nicht mehr, und das brachte sie fast um den Verstand. Fassungslos über ihre eigene Dummheit, verabscheute sie sich selbst dafür, dass sie begonnen hatte, Sympathie für Erik zu hegen.
    »Kalliope?«
    Der Klang seiner Stimme durch die geschlossene Tür ließ sie in die Höhe schnellen. Sie hatte auf dem Bett gesessen, in der Einsamkeit ihrer Kammer, in die sie sich zurückgezogen hatte. Sich der bitteren Tränen schämend, die sie vergossen hatte, wollte sie zunächst nicht antworten.
    »Kalliope?«, fragte Erik noch einmal. Seine Stimme war sanft und voller Bedauern. Sicher nicht so, wie Kalliope sich das Organ einer Bestie vorgestellt hätte. »Ich muss mit dir reden.«
    »Geh weg«, verlangte sie nur und hasste sich dafür, dass ihre Stimme zitterte und ihr Körper bebte. »Du hast mich getäuscht!«
    »Das habe ich«, gab der Prinz unumwunden zu, »aber nicht in schlechter Absicht.«
    »Ach nein? Wurde jemals in guter Absicht getäuscht?«
    »Hättest du mir zugehört, wenn ich dir von Beginn an offenbart hätte, was ich bin? Hättest du mir dein Vertrauen geschenkt?«, wollte er wissen, und etwas leiser fügte er hinzu: »Und deine Zuneigung?«
    »Zuneigung.« Sie spie das Wort trotzig aus – während sie sich widerwillig eingestehen musste, dass er nicht unrecht hatte. Aber er war eine Halbkreatur, eine Chimäre! Chimären waren von unreinem Blut und von Sünde zerfressen, Lüge und Täuschung waren ein Teil ihrer frevlerischen Natur …
    »Ich weiß, was man dir über meinesgleichen erzählt hat«, drang es durch die Tür, als könnte er ihre Gedanken lesen, »aber ich versichere dir, dass nichts davon der Wahrheit entspricht. Weder ich noch meine Eltern haben

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