Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)
Gesetzbuch gibt, wird gerechtfertigt, Menschen zu beobachten und zu überwachen, ihre Bankkonten zu durchschnüffeln und ihre Telefonate abzuhören. Tatsächlich aber ist es jemand, der nichts getan hat – der allerdings nach geheim gehaltenen Kriterien irgendwie auffällig geworden ist, gegen den die Polizei aber nicht offiziell ermitteln kann, weil es keinen begründeten Verdacht und schon gar keine gerichtsfesten Beweise gegen ihn gibt. Was Gefährder eigentlich sind und nach welchen Kriterien sie ausgewählt werden, sagt bezeichnenderweise niemand. Nach bisherigem Rechtsverständnis war ein solcher Mensch unschuldig. In dem Versuch, Verbrechen nicht mehr nur aufzuklären, sondern verhindern zu wollen, bevor sie geschehen, wurde diese Kategorie offensichtlich abgeschafft. Dem Staat, so zeigt der Ausdruck, ist längst jeder Bürger suspekt. Was angesichts der Steigerungsform noch deutlicher wird. Schließlich kennen Politik und Polizei auch noch den potenziellen Gefährder , einen Menschen also, der noch gar nicht zum Gefährder geworden ist, es aber irgendwann werden könnte. Einen Fast-Verdächtigen somit. Das kann jeder sein. Immerhin kann von jedem Bürger in der Zukunft irgendeine Gefahr ausgehen. So etwas nannte man früher einen Generalverdacht.
Gefahrenerforschung, erweiterte
Nicht zu verwechseln mit → Sicherheitsforschung . Die Gefahrenerforschung ist eine österreichische Wortschöpfung und wird dort synonym verwendet für verdachtsunabhängige Überwachung. Es handelt sich also um einen Austriazismus. Der es im Übrigen in sich hat. Eine Gefahr ist eine mehr oder weniger abstrakte Bedrohung. Sie ist ein Zustand, der noch nicht eingetreten ist. Die erweiterte Gefahrenerforschung entfernt sich noch etwas weiter vom Tatsächlichen und geht noch einen Schritt in Richtung des Möglichen. Sie soll dazu dienen, potenzielle Gefahren überhaupt erst zu entdecken. Eigentlich darf die Polizei nicht ohne Anlass ermitteln, sie braucht einen begründeten Verdacht, bevor sie etwas gegen Bürger unternehmen kann. Leider gilt dieser rechtsstaatliche Schutz vor anlasslosen Ermittlungen vielen Politikern inzwischen als überholt. Offenbar haben sie dabei aber wenigstens ein schlechtes Gewissen. Warum sonst sollten sie sich bemüßigt fühlen, diese Verdächtigung aller Menschen sprachlich zu verbergen? So findet bei der erweiterten Gefahrenerforschung eine Erforschung statt, die an wissenschaftliche Neugier und Forscherdrang denken lässt und nicht an Polizisten, die in die Privatsphäre Unschuldiger eindringen. Ein treffenderer Ausdruck wäre Rasterfahndung. Nur der Vollständigkeit halber: Das »erweitert« in dieser Konstruktion übrigens bedeutet, dass das entsprechende Gesetz nicht mehr nur gegen sogenannte kriminelle Vereinigungen von mindestens drei Personen angewendet werden kann. Nun dürfen auch Einzelpersonen ausgespäht werden. Die Erweiterung liegt also darin, dass es jetzt möglich ist, gegen jeden ohne Anlass vorzugehen. Vgl. das deutsche Pendant → Gefährder beziehungsweise seine Erweiterung, der potenzielle → Gefährder , alias Jedermann.
Geschlossenheit
Meist in »zur Geschlossenheit mahnen« oder »zu mehr Geschlossenheit mahnen«: Vom preußischen General und Militärtheoretiker Carl von Clausewitz stammt die Aussage, Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Der französische Philosoph Michel Foucault drehte das um und sagte, Politik sei die Fortsetzung des Krieges. Wie recht er damit hat, zeigt sich unter anderem daran, dass das Vokabular des Militärs in die Politik eingedrungen ist. So ist von »Parteisoldaten« die Rede, und hin und wieder mahnt ein Politiker seine Partei zur Geschlossenheit. Offensichtlich werden Parteien also mit einem Heerhaufen verglichen, der möglichst dicht zusammengedrängt gegen den Feind vorrücken soll. Was eine eher unglückliche Metapher ist. Hieße es doch, dass die Argumente, also die Waffen dieser Partei, so effektiv sind wie Lanzen oder Steinschlossgewehre. Denn die geschlossene Kampfordnung gilt spätestens seit der Französischen Revolution als überholt, ja heutzutage als glatter Selbstmord. Wer auf dem Schlachtfeld überleben will, muss flexibel und in kleinen Gruppen vorgehen. Aber das nur nebenbei. Denn mit der Geschlossenheit meinen die Betreffenden etwas völlig anderes. Es ist der versteckte Befehl, die Klappe zu halten. Ausgesprochen wird er immer dann, wenn ein Parteimitglied öffentlich Dinge sagt, die von der
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