Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)
derzeit gerade gewünschten Linie – schon wieder eine Militärvokabel, die von der Schützen- und der Frontlinie stammt – abweichen. Das offenbart nicht nur historischen Unverstand, sondern auch ein interessantes Demokratieverständnis. Ist die Stärke der Demokratie doch die offene und öffentliche Diskussion. Wozu nun einmal abweichende Meinungen und Kritik gehören. Genau die aber möchten Forderer von Geschlossenheit gern unterbinden.
Gestaltungsmehrheit
Wir dachten immer, eine Mehrheit sei eine Mehrheit, und wer sie hat, hat das Ziel der Wahl erreicht. Aber so einfach ist Politik wohl nicht mehr. Denn neben der stinknormalen Mehrheit gibt es inzwischen auch noch die Gestaltungsmehrheit , so eine Art Übermehrheit, die nur die richtigen Rocker schaffen. Wobei der Begriff im Unklaren lässt, wie er sich von der sogenannten Regierungsmehrheit unterscheidet. Die immerhin bezeichnet diejenigen Parlamentsmitglieder, die dafür sorgen, dass eine Regierung überhaupt regieren kann, indem sie sie unterstützen. Die Gestaltungsmehrheit hingegen scheint die Menge an Stimmen zu meinen, die es braucht, damit eine politische Gruppierung Entscheidungen treffen kann, ohne zuvor einen nervenden Koalitionspartner fragen und lästige Debatten führen zu müssen. Angesichts der häufigen Verwendung dieses Wortes ist sie offensichtlich der Traum jedes Politikers, da dieser sich, wenn er die Gestaltungsmehrheit besitzt, von niemandem mehr reinreden lassen muss. Allerdings soll man mit Wortschöpfungen vorsichtig sein, denn sie sagen immer auch etwas über ihren Schöpfer aus. In diesem Fall verändert die Gestaltungsmehrheit die Wahrnehmung ihres Ursprungs, der Mehrheit. Die ist dem modernen Politiker offensichtlich nicht mehr viel wert, die Alleinherrschaft muss es sein. Und wir glaubten in unserer Einfalt, die Monarchie sei abgeschafft und Demokratie sei die Kunst, möglichst viele Haltungen in eine Entscheidung einzubeziehen.
Gesundheitskarte, elektronische
Abkürzung EGK; bezeichnet den mit neuen Funktionen ausgestatteten und bislang als »Krankenversicherungskarte« bekannten Ausweis zum Nachweis einer Krankenversicherung. Aus der Versicherung gegen Krankheit wird somit eine Karte für Gesundheit, obwohl weder die Karte noch die Versicherung dabei helfen, gesund zu bleiben und Krankheiten zu verhüten. Es handelt sich also um eine Antiphrase, um das genaue Gegenteil des bezeichneten Gegenstandes. Vgl. auch → Gesundheitsprämie . Damit nicht genug. Was mit der Karte alles möglich ist, drückt der ihr vom Gesundheitsministerium (sic!) verliehene Name nicht annähernd aus. Kleiner Tipp: Der Namenszusatz elektronisch ist ein zarter Hinweis auf das Potenzial – so zart, dass er an bewusstes Verschweigen grenzt. Ja, der in die Karte eingeklebte Chip ist ein elektronisches Bauteil. Vor allem aber ist er ein digitaler Speicher, auf dem vertrauliche Informationen gesammelt werden und über den sich, sollte das System jemals vollständig installiert werden, die komplette Krankengeschichte eines Versicherten abrufen lässt, also viele, viele vertrauliche Informationen. Die elektronische Gesundheitskarte ist somit vor allem eine digitale Krankenakte beziehungsweise erlaubt den Zugriff auf eine solche und sollte dementsprechend vorsichtig gehandhabt werden. Sie, weil es so viel besser klingt, als elektronische Gesundheitskarte zu verkaufen, ist zwar nachvollziehbar, denn es gibt erhebliche Kritik an großen Datensammlungen und die berechtigte Befürchtung, sie könnten missbraucht werden. Daher ist es allerdings auch grob fahrlässig, eben dieses Risiko bewusst zu verschleiern.
Gesundheitsprämie
Nicht nur Sekten versprechen ihren Anhängern Erlösung von den Widrigkeiten des Lebens, Parteien können das auch ganz gut. In der Gesundheitsprämie finden wir gleich zwei solcher Heilsversprechen in einem Wort. Erstens die Prämie: Sie entstand aus dem lateinischen praemium und ist im üblichen Sprachverständnis ein Vorteil, der einem gewährt wird. Da bekommt also jemand etwas. Zweitens die Gesundheit: Von der kann man ja nie genug haben, und in Verbindung mit dem Versprechen, etwas zu erhalten, klingt das gleich noch viel besser. Das soll es auch, denn für viele Betroffene ist das Ganze von Nachteil. Worum es wirklich geht? Darum, dass jeder Bürger einen festen Betrag für seine Krankenversicherung bezahlen soll, unabhängig davon, was er monatlich verdient. Zahlen also statt erhalten und gesund statt krank – nach den
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