Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)
können. Denen, die eigentlich Neues schaffen und erdenken, bleibt angesichts solcher Dreistigkeit nur der Trost, dass eine Geisteskrankheit dieses Ausmaßes irgendwann wohl zum Wegsperren der Befallenen führt.
Krieg
Allgemeingültig und leicht verständlich definiert als eine Auseinandersetzung, die mit Waffen geführt wird. Jedoch gibt es wohl kein Wort, das in der Politik so inständig vermieden, verschwiegen oder umgedeutet wird. Wie kunstvoll die sprachlichen Verrenkungen sein können, demonstrieren deutsche Politiker seit Jahren am Beispiel Afghanistan. Dort werden deutsche Soldaten seit 2001 beschossen und schießen zurück. Sie kämpfen mit Waffen und führen somit einen Krieg . In politischen Reden wurde das anfangs als → Stabilisierungseinsatz verkauft, dann als friedenserzwingender Einsatz, später als nichtinternationaler bewaffneter Konflikt und schließlich als kriegsähnlicher Zustand. Damit wurden die Gefechte anfangs als etwas Gutes, dann als etwas Begrenztes und schließlich als etwas nicht ganz so Schlimmes dargestellt. Erst 2010, nach neun Jahren und bis zu diesem Zeitpunkt einunddreißig bei Kämpfen getöteten Bundeswehrsoldaten, konnte der damalige Verteidigungsminister die Macht des Faktischen nicht mehr ignorieren und rang sich dazu durch, das Vorgehen einen Krieg zu nennen. Fast. Denn wörtlich sagte er, man könne »umgangssprachlich von Krieg reden«. Umgangssprachlich? Also lediglich mit einem laienhaften Verständnis der Zusammenhänge, Fachleute jedoch würden das anders sehen? Welch verzweifeltes Bemühen, die Realität zu leugnen! Der Leitsatz der Propaganda, das erste Opfer im Krieg sei die Wahrheit, muss eigentlich lauten: Das erste, was in einem Krieg verschwindet, ist die korrekte Benennung desselben.
Kriegsführung, chirurgische
Dass in der chirurgischen Kriegsführung tatsächlich von → Krieg die Rede ist, ist längst nicht selbstverständlich und darf als Fortschritt gelten. Natürlich geben sich die politischen und militärischen Wortmagier nicht so leicht geschlagen und ergänzen hier das Konzept mit einem wunderschönen Euphemismus, der aus dem dreckigen, brutalen und hinterhältigen Krieg eine saubere, präzise und geradezu heilende Angelegenheit macht. Lediglich ein kleiner, akkurat gesetzter Schnitt sei nötig, um das Problem zu beseitigen, lautet das Versprechen dieser Wortklingelei. Und der werde natürlich, abgesehen von den Übeltätern, niemandem schaden und schon gar keine → Kollateralschäden verursachen. Schließlich soll hier nicht wild gekämpft und geschlachtet werden, sondern »geführt«, also überlegt und professionell gehandelt. So viel Wille zur Lüge ist schon beeindruckend. Wer mit Waffen in der Gegend rumballert, riskiert immer, dass Menschen sterben und dass es → unschuldige Opfer gibt. Und wer Gewalt gegen jemanden einsetzt, der sich zu wehren bereit ist, der kann noch so viel planen und führen, es wird in Hektik, Kampf und Chaos enden. Von der klinischen Sauberkeit eines Operationssaals kann also keine Rede sein.
Kriminalität, schwerste
Beispiel für eine sinnlose Steigerung über das plausible Maß hinaus, eine sogenannte Hyperbel. Kriminalität ist schon schlimm, niemand mag schließlich gern bestohlen oder betrogen werden. Politikern genügt jedoch die durchaus vorhandene Angst vor »normaler« Kriminalität offensichtlich nicht, wenn sie Eingriffe in Freiheiten und Rechte der Bürger zu rechtfertigen versuchen. Selbst eine schwere Kriminalität reicht dafür anscheinend nicht mehr, es muss schon eine schwerste Kriminalität sein, um zu erklären, warum es unbedingt eine → Mindestspeicherdauer braucht. Einerseits belegt das, wie dringend sich der Staat solche Überwachungsinstrumente wünscht. Andererseits zeigt es aber auch, wie unsinnig die ganze Forderung ist. Denn da die schwere Kriminalität bereits Taten wie Mord, Vergewaltigung oder Herbeiführung einer Explosion durch Kernenergie umfasst, ist es schwer, sich eine schwerste Kriminalität überhaupt vorzustellen. Angesichts der Verfehlungen, bei denen diese Instrumente dann tatsächlich eingesetzt werden sollen, lässt sich nur noch konstatieren, dass bei dem einen oder anderen Politiker eine schwere Verschiebung des Rechtsbewusstseins stattgefunden hat. Anders ist nicht zu erklären, warum beispielsweise das Bundeskriminalamt wünscht, mit unseren ohne Verdacht gespeicherten Kommunikationsdaten, gemeinhin → Vorratsdatenspeicherung genannt, auch das
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