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Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)

Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)

Titel: Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Biermann , Martin Haase
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oder?

Marktteilnehmer
    Früher, als der Kapitalismus noch rau und wild war, da galt es geradezu als cool, die Konkurrenten eigenhändig fertig zu machen, sie in den Ruin zu treiben. Immerhin ging es um einen ständigen Kampf, warum das also nicht auch so nennen? Diese Sichtweise ist ein wenig aus der Mode gekommen, sprachlich. Heute will niemand mehr für ein System verantwortlich sein, das auf Ungleichheit und Ausbeutung basiert, und so haben sich auch die Bezeichnungen gewandelt. Erst wurden aus den Konkurrenten die sogenannten Wettbewerber – eine Art Sportler also, die alle miteinander um einen Pokal wetteifern. Dann erschien auch diese Bezeichnung als zu vulgär. Wenn heute jemand pleite geht, dann ist er nicht etwa von irgendjemandem ruiniert worden, sondern ist auf geheimnisvolle Weise aus dem Markt ausgeschieden. Ist das nicht schön? Niemand ist schuld, niemand muss sich schlecht fühlen. In dem Bestreben, möglichst neutrale Bezeichnungen zu finden, entstanden im Wirtschaftssprech schließlich die Marktteilnehmer , was alle meint, die irgendwie am Waren- und Geldverkehr beteiligt sind, vom →   Entscheider bis zum →   Endkunden . Das soll sachlich und unemotional klingen und ausdrücken, dass niemand seinem Nächsten etwas Böses will. Vor allem aber verschleiert es, dass es noch immer ein Kampf ist, gesteuert von Gier und definiert durch den Zwang, auf Kosten anderer maximalen Profit zu machen. Wer glaubt, das ließe sich nicht mehr steigern, der unterschätzt, mit welcher Energie Sprachverhunzer am Werk sind. Es gibt nämlich auch die Marktbegleiter, die klingen, als würden sie sich das Geschehen von außen anschauen. Was sie ja auch tun, wenn sie erst einmal ruiniert sind. Siehe auch →   Markt, der .

Marschflugkörper
    Das Ding ist ein Körper, es fliegt und es bewegt sich auf einer festgelegten Route, marschiert also. Irgendwie zumindest. Technisch ist die Bezeichnung daher einigermaßen korrekt. Trotzdem beschreibt Marschflugkörper das Gerät nicht einmal annähernd. Immerhin fehlt der wichtigste Aspekt, die große Explosion, die unweigerlich folgt, wenn der Marsch über den Himmel beendet ist. Und die kann sehr groß sein, denn Marschflugkörper transportieren sogar Atombomben ins Ziel. Die Explosion ist dabei im englischsprachigen Original noch ansatzweise vorhanden, dort heißen diese Waffen cruise missile , also »fliegende Rakete«. Die »Rakete«, die auch im Deutschen auf einen explosiven Inhalt hinweisen würde, kam bei der Übersetzung seltsamerweise abhanden. Vielleicht in dem Bemühen, die Waffe neutraler und weniger bedrohlich erscheinen zu lassen. Der Marschflugkörper also ist nicht nur ein unbemanntes Raketenflugzeug oder eine Jetbombe und damit ein recht gefährlicher Gegenstand. Er ist auch ein Technizismus, der Versuch also, die Eigenschaften dieser Waffe hinter einem technisch klingenden Begriff zu verstecken.

Massenvernichtungswaffen
    Es handelt sich um einen Oberbegriff, also ein Hyperonym für Waffen mit großer Vernichtungskraft (englisch: weapons of mass destruction ). Heute ist Massenvernichtungswaffe ein Sammelbegriff allein für atomare, biologische und chemische Waffen – euphemistisch als »ABC-Waffen« bezeichnet –, die aufgrund ihrer Wirkung sämtlich international geächtet sind. So genügte 2003 allein die Behauptung, der Irak besitze Massenvernichtungswaffen und bedrohe damit die Welt, als Begründung für einen Krieg. Ursprünglich meint Massenvernichtungswaffe jedoch alle Waffen, die große Zerstörungen anrichten können. Erstmals verwendet 1937 in einem Bericht der britischen Zeitung »Times« über die deutsche Bombardierung des baskischen Ortes Gernika im spanischen Bürgerkrieg. Heute allerdings gelten sogenannte konventionelle Waffen nicht mehr als Massenvernichtungswaffen , obwohl einige von ihnen großflächige Vernichtung verursachen, zum Beispiel Streubomben oder thermobare Waffen. Ja, angesichts der Wirkung heutiger Waffen könnten sogar viele davon als Massenvernichtungswaffen betrachtet werden, wurden doch beispielsweise bei dem von der Bundeswehr angeforderten Luftangriff bei Kunduz durch zwei 500-Pfund-Bomben des Typs GBU-38 nach offizieller Sprachregelung der Nato »bis zu« 142 Menschen getötet. Zum Umdenken führt so etwas jedoch nicht. Zwar gibt es Bestrebungen, Streumunition zu ächten, allerdings haben noch längst nicht alle Länder die entsprechenden Verträge ratifiziert. Es sind ja schließlich keine

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