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Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)

Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)

Titel: Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Biermann , Martin Haase
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nicht. Man könnte ihn schlicht Bewerber nennen. Vielleicht gehört sich das aber heute nicht mehr für Menschen, die mal eine »Führungskraft« werden sollen.

Preisanpassung
    Wenn Preise angepasst werden, sind sie auffälligerweise anschließend fast immer höher als zuvor. Die Preisanpassung ist also meist eine Preissteigerung. Aber Anpassung klingt natürlich besser. Es handelt sich somit um einen Euphemismus. Noch dazu um einen, der nicht nur die ursprüngliche Bedeutung versteckt, sondern sie geradezu entschuldigt. Denn anscheinend konnte niemand etwas dafür, dass der Gegenstand nun teurer ist, die Preise mussten einfach an irgendetwas angepasst werden. Dieses Etwas ist schuld, und der Anpasser war dazu nachgerade gezwungen. Der eigentliche Verursacher, derjenige also, der einen höheren Preis festgelegt hat, wird gut verborgen, der Begriff wird unpersönlicher. Daher handelt es sich bei der Preisanpassung auch um eine sogenannte Nominalisierung. Oft begegnen einem die Preisanpassungen im Plural. Der macht sie noch undurchsichtiger. Denn durch die Pluralisierung des Handlungssubstantivs verschiebt sich die Betonung weg von der konkreten Handlung, hin zum Ergebnis. Mietanpassungen, um ein beliebtes Beispiel zu nennen, haben nichts mehr zu tun mit einem Hausbesitzer, der nach Gutdünken die Miete manipuliert, und sie haben auch nichts mehr zu tun mit einer steigenden Miete. Sie klingen vielmehr wie eine Notwendigkeit, der sich niemand entziehen kann. Eine tolle Erfindung.

Programmländer
    Ein paar Mitglieder der Europäischen Union haben seit einiger Zeit finanzielle Probleme, vor allem wenn es darum geht, geliehenes Geld zurückzuzahlen. Weil das durchaus keine →   bedauerlichen Einzelfälle sind, wünschten Politik und Medien für sie bald einen Oberbegriff. Das macht sich immer gut. Wer für die Krankheit einen Namen hat, wirkt, als hätte er auch ein Medikament dagegen. Zunächst wurden diese Länder dazu einfach aufgelistet, und aus den Anfangsbuchstaben von Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien entstand die unrühmliche Abkürzung PIIGS, gesprochen pigs , wie das englische Wort für »Schweine«. Es darf angenommen werden, dass es keine Vertreter dieser Länder waren, die sich diese Abkürzung ausdachten. Sie haben sich denn auch mehrfach darüber beschwert. Offensichtlich gelangweilte EU-Bürokraten nutzten die nächstbeste Chance für eine Umetikettierung. Ein EU-Gipfel im November 2011 beschloss, diese Länder zu unterstützen, wenn sie ihre Haushaltspolitik verändern, wenn sie also, wie es im EU-Sprech heißt, ein »Anpassungsprogramm« durchführen. Was laut dieses Programms nun woran angepasst werden soll, geht aus der Erklärung nicht hervor, wahrscheinlich ist »anpassen« nur ein Euphemismus für »verändern«. Wie auch immer, es genügte den Bürokraten als Anlass. Und so heißen die verschuldeten Länder nun Programmländer und haben damit einen ebenso unverfänglichen wie nebulösen Gattungsbegriff.

Protestwähler
    Abwertender Ausdruck für Menschen, die keine der »etablierten« Parteien wählen, die ihr Kreuz also nicht bei CDU, FDP, Grüne oder SPD machen. Unterstellt, dass die Protestwähler sich eigentlich für eine der vier Parteien entscheiden wollten, es aber ausnahmsweise nicht taten, um diesen »mal eins auszuwischen«. Basiert offensichtlich auf der Haltung, dass es so etwas wie eine richtige Meinung gibt und dass jede andere Meinung, die von dieser abweicht, falsch und verwerflich ist. Beziehungsweise ignorieren die Verwender des Ausdrucks die Tatsache, dass es andere Meinungen geben kann als die eigene. Der Ausdruck diffamiert damit nicht nur eben jene Wähler, die letztlich nichts weiter tun, als ihr demokratisches Recht wahrzunehmen. Er offenbart auch ein gelinde gesagt interessantes Demokratieverständnis. Und belegt, was Politiker dieser »etablierten« Parteien grundsätzlich von Wählern und von Wahlen halten. Nichts. Beide sind anscheinend nur solange wohlgelitten, wie das Ergebnis einer Wahl im Sinne dieser Politiker ist. Dabei ist letztlich jede Entscheidung eine Form des Protestes – gegenüber allen anderen Möglichkeiten.

Q
    Qualitätsklassen
    Mal abgesehen davon, dass Qualität immer gut klingt, handelt es sich eigentlich um einen neutralen Fachbegriff. Nur die Tatsache, dass er verwendet wird, um eine Verschlechterung zu verbergen und Kunden zu täuschen, qualifiziert die Qualitätsklassen , gern auch quality of service genannt, als Neusprech.

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