Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)
inzwischen mindestens ebenso verbrämend als → Mindestdatenspeicherung oder auch als Datenvorhaltung bezeichnet. Um Arthur Schopenhauer zu zitieren: »Wenn einer seinen Namen ändert, so kommt es daher, dass er den früheren nicht mehr in Ehren tragen kann; aber er bleibt derselbe und wird dem neuen Namen nicht mehr Ehre machen als dem alten.« Ehre macht das Verfahren bestimmt nicht, angesichts der Wirkung für die Betroffenen sollte es besser Datenhamsterung, Datenhortung oder Datenscheffelei heißen.
Vorruhestand
Der Ruhestand ist definiert als die Zeit des Nicht-Mehr-Arbeiten-Müssens, als Zustand der Ruhe eben, Gegenpol zu Hektik, Bewegung und Schufterei. Womit sich die Frage aufdrängt, wie ein Zustand aussehen könnte, der sich kurz vor diesem Ruhestand befindet? Denn dabei kann es sich eigentlich nur um die Unruhe handeln, um Tätigkeit somit. Die aber ist offensichtlich nicht gemeint. Die zuständige Bundesagentur für Arbeit definiert den Vorruhestand als »Altersrente wegen Arbeitslosigkeit«. Eine klassische Rente also, in die die hoffnungslosen Fälle gescheucht werden, damit sie nicht länger als arbeitslos gelten und nicht weiter die schöne Statistik ruinieren. Vgl. → arbeitssuchend . So etwas wie eine Stilllegungsprämie für nicht mehr verwendbare → Arbeitnehmer also. Was natürlich nicht so nett klingt wie ein Vorruhestand . Selbstverständlich kostet diese erzwungene Ruhe etwas. Der Betroffene zahlt nämlich weniger ein und bekommt theoretisch mehr heraus. Weswegen er natürlich eine Kürzung seiner Rente hinnehmen muss, Abschlag genannt. Die Betroffenen bezahlen also in erster Linie dafür, dass ihr Einkommen statt Arbeitslosengeld nun Rente heißt.
W
Wachstum, negatives
Siehe → Negativwachstum .
Wachstumsdelle, vorübergehende
Gelegentlich beschleicht uns der Verdacht, dass Politiker mit ihren Wortschöpfungen nicht nur den Wählern, sondern auch sich selbst etwas vormachen wollen. Wenn beispielsweise der Wirtschaftsminister mitten in einer weltweiten Schuldenkrise von einer vorübergehenden Wachstumsdelle spricht, kann das eigentlich nur ein Ausdruck verzweifelter Hoffnung sein. Das wird schon durch die Verwendung des Wortes »Delle« deutlich, das eine flache Vertiefung in einer sonst makellosen Oberfläche bezeichnet; man denkt unwillkürlich an einen kleinen Kratzer am Auto. Dieses aus der Umgangssprache entlehnte Wort wird in einem Terminus technicus verwendet, noch dazu in Verbindung mit dem Partizip vorübergehend . Das Wachstum der Wirtschaft, soll das bedeuten, sei ausgerechnet jetzt für einen kurzen Moment nicht so großartig, sonst aber ganz prima – sozusagen die lästige Folge eines kleinen Unfalls. In einer Zeit, in der einige europäische Länder kaum noch in der Lage sind, die Zinsen für ihre Schulden zu bezahlen, klingt das, sagen wir, mutig. Oder wie der Versuch, sich selbst die Situation schön zu reden. Allerdings hat der Wirtschaftsminister nicht weit genug gedacht, sonst hätte er sich den Ausdruck verkniffen. Denn das Sprachbild funktioniert nicht, weil hier ein beredter Metaphernkonflikt vorliegt: Eine Delle geht nicht von selbst wieder weg, wie das intransitive vorüber-gehend suggeriert. Sie muss von jemandem ausgebeult werden. Wenn das Wachstum also tatsächlich eine Delle hätte, wer wäre dann der Richtige, um für ihre Beseitigung zu sorgen? Genau: der Wirtschaftsminister. Nun, wir sind gespannt, vielleicht hat er ja ein paar → Eckpunkte , um etwas gegen die Krise zu tun.
Wahlmaschine
Auch Wahlgerät, elektronisches . Bezeichnung für einen bei Wahlen zur Abgabe und Zählung der Stimmen eingesetzten Computer. Beide Formulierungen verfolgen offensichtlich das gleiche Ziel: Sie sollen vergessen machen, dass es sich um digitale Technik handelt, eben um Computer. Das ist erstaunlich, da es in der politischen Reklamesprache normalerweise gar nicht modern genug zugehen kann, wenn ein neues Verfahren vorgestellt wird, vgl. → ePass . Bei den Wahlmaschinen hingegen wird auf die aus der Zeit des Dampfantriebes stammenden Begriffe Maschine und Gerät zurückgegriffen. Warum? Wahrscheinlich damit die Wähler keine Angst vor den Dingern haben. Verschiedene Gruppen haben vorgeführt, dass Wahlcomputer manipuliert werden können, ohne dass die Wähler eine Möglichkeit haben, die Fälschungen der Wahlergebnisse auch nur zu erkennen. Aufgrund dessen hat das Bundesverfassungsgericht den Einsatz von Wahlmaschinen in Deutschland wegen
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