Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)
und dem französischen Staatschef genügt das irgendwie nicht, sie fordern auch noch eine Wirtschaftsregierung für Europa. Leider sagen sie nicht, was sie damit meinen beziehungsweise wie sie auf diesen seltsamen Ausdruck kommen. Immerhin ist es die ureigene Aufgabe einer Regierung, auch über die Wirtschaft eines Landes zu regieren, sie also zu steuern. Woraus sich die Frage ergibt, wozu es dann eine Wirtschaftsregierung braucht beziehungsweise gar eine »tatsächliche Wirtschaftsregierung «, wie sie auch genannt wird. Soll mit dieser die Wirtschaft regiert werden, weil die bisherigen Regierungen den Job nicht anständig machen? Oder soll die Wirtschaft diese Regierung lenken und der Begriff diesen längst eingetretenen Umstand nur endlich zugeben? Nicht nur der Inhalt, auch die Struktur ist leider unbekannt. Soll die neue Wirtschaftsregierung unter, neben oder über den bisherigen Regierungen agieren oder vielleicht sogar ganz ohne sie, als Schattenregierung? Und welches Parlament wird diese neue Regierung kontrollieren und überwachen? Geklärt ist das alles nicht, und das sollte stutzig machen. Klingt das Konzept doch, als soll hier vor dem Schreckensszenario Wirtschaftskrise eine neue, undurchschaubare Machtstruktur errichtet werden.
Wirtschaftswachstum
Unter Wirtschaftswachstum versteht man den Anstieg des Bruttosozialprodukts, also den Anstieg des Wertes aller im Land hergestellten Waren und aller zur Verfügung gestellten Dienstleistungen. Diesen Wachstum zu nennen, ist entlarvend, denn Wachstum ist ein positiv wahrgenommener Begriff: Man denkt dabei an Pflanzen, die wachsen, oder sogar an Kinder, die groß und erwachsen werden. Das sind alles schöne Assoziationen. Aber sie führen in die Irre. Denn in der Natur ist das Wachstum immer die Zeit der Entwicklung, die irgendwann ein Ende findet. Bäume erreichen irgendwann ihr maximales Wachstum, Kinder auch, sie werden erwachsen. Das Bruttosozialprodukt hingegen soll nie erwachsen werden, die Hoffnung von Politik und Wirtschaft ist, dass es immer weiter wächst. Was mit der Realität natürlich auch nichts zu tun hat, da es natürlich Schwankungen unterworfen ist und sogar sinken kann. Das wird dann gern verbrämt, zum Beispiel als → Negativwachstum . Zudem suggeriert das Kompositum, dass nicht das Bruttosozialprodukt, sondern die Wirtschaft wächst, was natürlich genau genommen nicht der Fall ist. Denn da Wirtschaft die Gesamtheit aller wirtschaftlichen Einrichtungen ist, kann sie nur wachsen, wenn die Zahl dieser Einrichtungen zunimmt und nicht nur ihre Leistung. Die Verschiebung der Bedeutung von Wirtschaft zu »Bruttosozialprodukt« nennt man eine Metonymie. Inzwischen wird das metonymische Erstglied des Kompositums Wirtschaftswachstum auch gern weggelassen und nur noch von Wachstum gesprochen (vgl. → Stabilitäts- und Wachstumspakt ). Damit hat Wachstum einen vollständigen Bedeutungswandel vollzogen von einem gesetzmäßigen biologischen Prozess zu einem ganz und gar nicht gesetzmäßigen Anstieg des Bruttosozialprodukts.
Z
zeitnah
Ein sogenannter Pleonasmus, also eine »Blähvokabel«. Genau deswegen ist sie vor allem bei Wichtigtuern beliebt, denn sie klingt so schön eilig, so als würde das Betreffende sofort geschehen, spätestens aber in zehn Minuten. Die eigentliche Bedeutung ist jedoch viel weniger hektisch, heißt zeitnah doch »irgendwann«, vielleicht aber auch »nie« (und ist somit eine Antiphrase). Denn das erhoffte Ergebnis ist (gemäß den Regeln der Komposition) nah an einer Zeit, die nicht näher definiert wird und von der damit gar nicht feststeht, wann sie eintreten und wie lang sie andauern wird. Die umgangssprachliche Entsprechung liefert ungefähr der Satz: »Jaja, gleich, und jetzt lass mich in Ruhe.« Das sollte man dann auch schleunigst tun, denn man wird von Zeitgenossen, die solche schwammigen Ausdrücke verwenden, nie eine konkrete Antwort bekommen.
Zensus
Lateinisch, wörtlich »Schätzung der Bürger nach ihrem Vermögen«. Eigentlich jedoch eine Volkszählung. Siehe → Registerabgleich .
Zwänge, parlamentarische
Ach, diese Politiker. Da wollen sie einem sagen, unter welch fürchterlichem Druck sie stehen, und der gemeine Wähler ist schon versucht zu denken: die armen Schweine. Dann aber ruinieren sie wieder alles mit ihrem Hang zur Verschwurbelung. Da lassen ein paar junge Grüne verlauten, sie seien zwar weiterhin tapfer gegen ein unseliges Gesetz, aber »die Fraktion hat sich aufgrund
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