Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)
parlamentarischer Zwänge anders entschlossen«. Unter Zwang also standen sie alle? Wurden gar von bösen Mächten am Guten gehindert und gegen ihren Willen gezwungen, dem Gesetz zuzustimmen? Wahrscheinlich haben die jungen Wilden gehofft, genau das auszudrücken. Sie haben es allerdings zu gut gemeint. Ihre Wortwahl enttarnt, dass dem nicht so war. Denn Zwänge sind kein Zwang. Das Wort steht für Konventionen, denen wir uns freiwillig unterwerfen. Trickreich, diese Substantive. Manche davon bezeichnen eine Handlung oder einen Zustand und sind von Verben abgeleitet. Manche dieser Handlungssubstantive oder Nomina actionis nun haben die interessante Eigenschaft, dass sie eine neue Bedeutung bekommen, wenn sie in den Plural gesetzt werden. Der Gang hat noch mit gehen zu tun, die Gänge hingegen etwas mit Korridoren; Aufmerksamkeit ist ein Zustand, Aufmerksamkeiten sind kleine Geschenke. Die parlamentarischen Zwänge somit sind kein Zwang, sondern das, was sie wohl sein sollten: eine Ausrede. Gerade die Grünen!, mag ausrufen, wer sich noch an frühere Zeiten erinnert. Immerhin hatten die einst einen in ihren Reihen, der sich um solche Konventionen nicht scherte und das auch gerne demonstrierte, indem er zur Vereidigung als Minister zwanglos in Turnschuhen erschien.
Eine politische Grammatik – statt eines Nachwortes
Neusprech betrifft nicht nur den Wortschatz, die Grammatik der politischen Sprache zeigt ebenso Auffälligkeiten. Und die sind oft gut versteckt. Einzelne, ungewöhnliche Begriffe mögen den gemeinen Wähler in Überschriften oder Ansprachen noch irritieren und seinen Argwohn wecken. Die wahren Künstler des Politikersprechs jedoch brauchen keine Neuschöpfungen und Umdeutungen, um ihre Absichten zu verschleiern. Sie nutzen ganz normale Wörter und bauen sie so geschickt zusammen, dass der Zuhörer gar nicht merkt, wie er verschaukelt wird. Anbei eine kleine Sammlung solcher Sprachkunststücke, sozusagen als Dessert.
Das Merkel- Wir : andere vereinnahmen oder aussperren
Kleine Wörter können eine große Wirkung haben. Zum Beispiel das Pronomen der ersten Person Plural. Die häufige Verwendung von → wir ist geradezu typisch für die Sprache von Politikern. Das folgende Beispiel aus einer Rede von Angela Merkel auf einer Wahlkampfveranstaltung der CDU in Osnabrück zeigt, warum:
»Heute hätten wir weder die libanesischen Kofferbomber gefunden, noch hätten wir die Schlägereien des alten Mannes in der U-Bahn in München so schnell aufklären können, und heute findet jeder Videoüberwachung auf großen Plätzen, öffentlichen Plätzen, ganz normal.«
Abgesehen davon, dass längst nicht jeder eine Videoüberwachung normal findet und solche Aufzeichnungen weder irgendeinem alten Mann halfen noch möglichen Opfern eines Attentats, kann davon ausgegangen werden, dass Angela Merkel die Kofferbomber nicht persönlich gestellt hat und an der Aufklärung der »Schlägereien des alten Mannes« überhaupt nicht beteiligt war. Das → wir soll hier also eine Verbindung herstellen zwischen Merkel und ihrer Politik und den eigentlichen Ermittlern. Es wird somit extensiv verwendet. Merkel dehnt sich dadurch aus und macht sich die Erfolge anderer zu eigen. Für Politiker, die unter stetiger Beobachtung stehen und jederzeit die Wirksamkeit ihrer Handlungen beweisen müssen, ist das ein schnell erreichbarer und damit umso schönerer Effekt.
Doch das Pronomen kann noch mehr. Charakteristisch ist die Vermischung von ausschließendem (exklusivem) und einschließendem (inklusivem) → wir . So setzte Merkel ihre oben zitierten Ausführungen wie folgt fort:
»Wenn es die Union nicht gewesen wäre, […], hätten wir heute noch keine Videoüberwachung, und deshalb werden wir auch andere Themen auf die Tagesordnung bringen […]«
Das erste → wir ist klar inklusiv , es schließt alle Hörer und überhaupt alle Deutschen mit ein, denn sie alle werden von Videokameras überwacht. Das zweite → wir meint hingegen nur noch Merkel und ihre Partei, ist also exklusiv , da es alle Nichtmitglieder ausschließt. Diese ständige Vermischung von einschließendem und aussperrendem → wir soll dazu führen, dass sich das Publikum mit der Partei und mit der Kanzlerin identifiziert, es soll die Bindung verstärken – ohne klar zu sagen, dass dort jemand eingebunden wird.
Diesen Kniff nutzt die CDU auch im Wahlkampf: Bei der Europawahl 2009 zeigten die CDU-Plakate eine Deutschlandfahne und den Aufdruck »Wir in
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