Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)
sagte über einen berühmten Walzer von Strauß: »Leider nicht von mir.« Walzermusik und die große klassische Musik, die damals in Wien im Schwange war, gehörten also zusammen. Der Unterschied zwischen E und U war noch lange nicht so groß wie heute.
Dazu ein weiteres Beispiel. In Mozarts Zauberflöte gibt es beides: die leichte Unterhaltung in der Figur des Papageno und das Ernste in der Freimaurermusik, getragen von schweren Klängen in Es-Dur und c-Moll. Auf der einen Seite die Witze von Papageno, auf der
anderen Seite die Klage der Pamina. Das fällt später zur Zeit der »silbernen« Operette völlig auseinander: in den Ernst des Parsival und in den Kitsch der Fledermaus.
Ein moderner Komponist wie der Österreicher Lukas Ligeti oder der Saarbrücker Rolf Riehm würde sich schwertun, die gegenwärtige Popmusik als Kompositionsvorlage zu verwenden, so wie man es damals mit der Musik von Johann Strauß gemacht hat. Seine Kompositionen wurden ständig bearbeitet, beispielsweise gab es anspruchsvolle Klaviertranskriptionen seiner Walzer. Sie waren also fest in der klassischen Musikkultur verankert, was man von der heutigen Popmusik nicht behaupten kann. Wahrscheinlich hätte es Johann Strauß gar nicht großartig irritiert, wenn er in einer kitschigen Operettengala vorkäme oder von Andre Rieu vorgetragen würde, aber dem Range seiner Musik nach wäre er da am falschen Ort. Die Zeiten haben sich geändert.
KAPITEL IV
Tonkünstler, Überschätzte und Vergessene
Ist die Netrebko nicht nur schön,
sondern auch gut? Was störte Glenn Gould
an Beethovens Sonaten? Und gibt es zu Recht
vergessene Werke und Komponisten?
Mahler und seine Fälscher
Wie soll man mit unvollendeten Werken
umgehen?
Bei der Zehnten Symphonie Gustav Mahlers ist nur der erste Satz vollendet, das Adagio. Die Spielzeit beträgt fast eine halbe Stunde, zwei gewaltige Themen arbeiten sich aneinander ab, in der Mitte ertönt so etwas wie ein Todesakkord. Daneben existieren noch Skizzen und umfangreiche Vorarbeiten zu zwei Scherzo-Sätzen. Ließe sich dieses Material für die Nachwelt bearbeiten, gar vollenden? Ich bin da skeptisch, trotz des schönen Mahler-Zitats »Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche«.
Man tut immer so, als ob man den Stil eines Komponisten kennen würde; als ob man einen Computer mit drei Akten von Mozarts Figaros Hochzeit füttern könne und dann automatisch der vierte herauskäme. Wer so denkt, degradiert den Komponisten zu einer seelenlosen Maschine. Musik ist keine Wahrscheinlichkeitsrechnung. Wer weiß schon, was Gustav Mahler hinzugefügt hätte? Wer weiß schon, welche Instrumentation ihm, dem Instrumentationsgenie, eingefallen wäre und warum er das eine vollendet hat und mit dem anderen nicht fertig geworden ist?
Auch Alban Bergs berühmte Lulu ist Fragment geblieben. Bei dieser 1935 geschriebenen Oper fehlt der Anfang des dritten Aktes, eine ungefähr fünfzehnminütige Szene. Seit der österreichische Komponist Friedrich Cerha die fehlende Passage ergänzt hat, mit dem Einverständnis der Witwe, wird die Oper gern für ein fertig komponiertes Werk gehalten. In Wahrheit ist es aber eine Mogelpackung: Was nie da gewesen ist, kann auch nicht rekonstruiert werden. Als ich die Uraufführung dieser Neufassung in Paris hörte, dirigiert von Pierre Boulez, habe ich am Anfang des dritten Aktes den großen Alban-Berg-Sound schmerzlich vermisst.
Mit Leonard Bernstein bin ich der Ansicht, dass man nur fertige Werke oder Werkteile aufführen sollte. Fragmente können eine eigene Würde besitzen. Aber man kann auch anders argumentieren. Ich habe zum Beispiel mein Leben lang Mozarts Requiem sehr gerne gehört. Mittlerweile vermuten Musikforscher, dass er es nicht selbst vollendet hat. Mozart brach die Komposition wohl mittendrin ab und überließ den Rest des Auftragswerkes seinem Schüler Franz Xaver Süßmayr. Der Punkt ist: Ich bemerke die Stelle im Lacrimosa nicht, die angeblich nicht mehr von Mozart stammt. Ich halte die nächsten Sätze, Hostias et preces oder auch das Benedictus , für wunderbare Mozart-Musik. Ich nehme an, ohne es beweisen zu können, dass Mozart seinem Schüler für die fehlenden Passagen klare Anweisungen erteilt hat. Das Requiem ist also ein
Fragment, dem man das Fragmentsein überhaupt nicht anhört.
In allen Fällen aber, wo man es hört – und das ist sonst fast immer so –, soll man es ehren und nicht so tun, als könne man vollenden, was
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