Sprengkraft
Natürlich brannte der Alte darauf, via Fernsehen seine Litanei von der drohenden Landnahme der Scharia-Jünger zu predigen. Moritz wusste, dass der Schriftsteller kein Coaching brauchte. Rolfes besaß Routine, außerdem war Reinhold Beckmann bekannt dafür, seine Gäste mit Samthandschuhen anzufassen.
Ein Blick in die E-Mails: immer noch keine Umfrageergebnisse.
Moritz knöpfte sich den Internetauftritt der Freiheitlichen vor. Ein weites Feld, das er da zu beackern hatte. Der Inhalt war wirr, die stümperhafte Rechtschreibung machte das Bild komplett. Die ärgsten Seiten löschte Moritz sofort.
Carola winkte einen Gruß durch die offen stehende Bürotür und verschwand in ihrem Zimmer, um ihre Tasche abzulegen. Dann kam sie zurück, schloss die Tür, drückte Moritz einen Kuss auf die Lippen und lehnte sich gegen die Fensterbank.
»Mein Gott«, sagte sie mit spöttischem Lächeln. »Sogar meine Putzfrau hat mir heute früh gratuliert.«
»Und dein Mann?«
»Frag lieber nicht.«
»Wegen Bucerius und der Parteifinanzen …«
Carola winkte heftig ab und legte den Finger vor den Mund.
Glaubte sie etwa, auch sein Büro sei verwanzt?
Moritz zeigte ihr das Video bei YouTube. Carola beklagte sich, wie alt sie wirke: ungünstiges Saallicht, Schatten um die Augen – dabei sah sie gut aus, fand Moritz.
Schnitt auf Archivbilder: die Flugzeuge, die in die New Yorker Zwillingstürme krachten, steinewerfende Palästinenser, hasserfüllte Demonstranten in Pakistan, Moscheebauten in Deutschland – neben Kirchtürmen ragten Minarette auf, die plötzlich unheilvoll wirkten.
Dann der Höhepunkt des Films, die neue Vorsitzende, feurig und mitreißend, herangezoomt in Großaufnahme: Wir haben die Faxen dicke!
»Das habe ich tatsächlich gesagt?«, fragte Carola und hob eine Augenbraue.
»Stand auch im Manuskript.«
In der Schlusseinstellung schwenkte sie ihre Rosen. Schrift wurde eingeblendet: Die Freiheitlichen – ehrliche Stimme für Deutschland.
Schon mehr als sechzigtausend Klicks.
Es klappt, dachte Moritz. Dank seines Computerkumpels Henning.
Er griff zum Telefon, um dafür zu sorgen, dass sich das angebliche Interesse der Internetuser herumsprach.
Gegen Mittag meldete Spiegel Online, dass der Parteitag der Freiheitlichen und Carola Ott-Petersens Rede der aktuelle Renner auf YouTube seien. Fast einhunderttausend Betrachter in den letzten vierundzwanzig Stunden – kein anderes deutsches Polit-Video war je so häufig angeklickt worden.
Moritz rief Henning an und bedankte sich. Dann gab er Gräfe Bescheid, dass das Einwählprogramm von den Rechnern der diversen Bucerius-Tochterfirmen und Pro-Freiheit -Vereine gelöscht werden konnte. Das Ziel war erreicht, die Meldung würde die Runde machen und für eine Flut weiterer Klicks sorgen. Die Freiheitlichen als Liebling des Internets – moderner konnte sich eine Partei nicht präsentieren. Ein Zehn-Punkte-Programm zur Konjunkturbelebung hätte längst nicht diese Wirkung gehabt.
Sie haben eine E-Mail bekommen: Edwin A. Bucerius gratulierte zum Erfolg.
Das Telefon klingelte: Die Beckmann-Redaktion wollte nun auch die Vorsitzende der Freiheitlichen als Gast.
Moritz sagte zu und rieb sich die Hände.
Er informierte Carola und beauftragte die Sekretärin, einen zweiten Flug nach Hamburg zu buchen.
Dann kam endlich die E-Mail des Rothenbaum-Instituts – die Meinungsforscher übermittelten das Ergebnis ihrer bundesweiten Telefonumfrage vom Wochenende. Drei nüchterne Zeilen, die auf den Anhang verwiesen.
Moritz öffnete das Dokument. Die Zahl stach ihm sofort ins Auge.
Zweieinhalb Prozent.
Moritz konnte es nicht fassen. Er las den Text wieder und wieder. Es waren tatsächlich die neuesten Werte. In Nordrhein-Westfalen lagen sie nicht über dem Bundesdurchschnitt. Ein kaum spürbares Plus, das auch auf einem rechnerischen Fehler beruhen konnte – war das die ganze Ausbeute seiner Arbeit?
Das Telefon klingelte. Der Bauunternehmer persönlich.
»Die Zahlen gelesen, Herr Lemke?«
»Ja.«
»Wir müssen uns etwas einfallen lassen.«
Moritz versuchte, zuversichtlich zu klingen. »Unsere Vorsitzende ist heute Abend zu Gast bei Reinhold Beckmann, gemeinsam mit Rolfes.«
»Trotzdem. Zwo Komma fünf sind eine Katastrophe!«
»Abgerechnet wird am Wahltag.«
»Ihre Durchhalteparolen in Gottes Ohr, Herr Lemke. Aber das Umfragetief ist noch nicht alles. Ich habe gerade mit unserem Mann im Innenministerium
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