Spur der Flammen. Roman
getätigt hatte – die Epistel des griechischen Philologen Longinus (das Original, nicht die Fälschung aus dem vierten Jahrhundert); der ›Traum‹ des keltisch-kymbrischen Dichters Daffyd ab Gwilym, von dem die Waliser nur annahmen, dass er existierte, den Philo aber wahrhaftig besaß; die angeblich ›verschollenen‹ Notizen von Leonardo da Vinci; das Diamantene Sutra; die fehlenden Teile aus Anfang und Ende des Evangeliars ›Book of Kells‹. Mit diesen Werken hatte der Brief nichts gemein.
»Das ist es doch, was du gesucht hast?«, fragte Terry Leslie, ihre Freundin und Eigentümerin der Jacht, und reichte Jessica einen gefüllten Champagnerkelch. Ein Buffet mit exotischen Früchten und kaltem Hummer war aufgebaut und der Steward wartete diskret im Halbdunkel, aber Jessica ignorierte die Köstlichkeiten und den Champagner. Der Blick auf die Waage am Morgen hatte ihr gereicht. Ein Kilo zu viel. Das bedeutete, einen Fastentag einlegen. Insgeheim beneidete sie die Freundin um ihren tief gebräunten straffen Körper, dessen harte Muskeln tägliches Fitnesstraining verrieten. Das wiederum war unverzichtbar in einem Beruf, bei dem man sich an glatten Wänden emporhangeln, sich unter Lichtsensoren durchschlängeln und von Oberlichtern abseilen musste.
Die dreißig Meter lange Jacht dümpelte auf azurblauer See vor Anker. Unter Deck gab es vier luxuriös eingerichtete Privatkabinen, Bäder mit Whirlpool und goldenen Wasserhähnen. Die fünfköpfige Crew, die das Luxusschiff bediente, ahnte nicht, dass ihre Dienstherrin eine berüchtigte Einbrecherin war, die der Polizei seit Jahren ein Schnippchen schlug.
Eine Woche zuvor hatten Jessica und Terry im noblen Salon der Jacht zusammengesessen, die Türen zum Achterdeck weit offen. An einem Tisch, auf dem gewöhnlich Seekarten studiert wurden, hatte Jessica den Lageplan eines Museums in Melbourne ausgerollt. Ein wohlhabender Sammler hatte dem Museum seine wertvolle Sammlung vermacht, und unter den aufgelisteten Sammlerstücken befand sich auch der Brief eines gewissen Raymond von Toulouse. Diesen Brief wollte Philo Thibodeau haben.
Terry Leslie hatte den Lageplan eingehend studiert. Auf ihm waren das Beleuchtungssystem des Museums, die Schaltfelder, Belüftungsschächte, Eingänge, elektrische Verkabelung, Notstromaggregate, Sensoren und Monitore verzeichnet. Zu dem Lageplan gehörte noch eine Namensliste des Wachpersonals mit Dienstplänen und Kontrollrunden. Den beigefügten Bericht hatte Terry überflogen und sich die wichtigsten Punkte gemerkt:
Fenster sind aus einbruchsicherem Polycarbonat; Hundestaffel im Einsatz, hochsensible Bewegungsmelder.
Kurzum, das Museum verfügte über ausgefeilte Sicherheitssysteme.
Ein Kinderspiel.
Acht Tage später lieferte Terry die Ware.
»Einfach perfekt«, lobte Jessica die Einbrecherin, deren erstklassige Arbeit ihr nicht nur zu dieser Luxusjacht, sondern auch zu einer Villa in Spanien, einer Eigentumswohnung in Hollywood und einer Flotte von Luxuswagen verholfen hatte.
Terry Leslie brüstete sich damit, sechsundfünfzig ›Brüche‹ gemacht und nicht einen Pfusch begangen zu haben. »Sie werden mich nie schnappen«, lächelte sie, wohl wissend, dass die Polizei nach einem Mann fahndete.
Jessica überflog das Schriftstück und übersetzte im Geiste das mittelalterliche Französisch. In einem vertraulichen Brief an seinen Bischof äußerte im Jahre 1048 ein Raymond von Toulouse Bedenken über eine geheime heidnische Bruderschaft, die sich offenbar mit der Bewahrung ketzerischer Schriften befasse in Erwartung des Tages, da der Antichrist auferstehen und die Weltherrschaft übernehmen würde. In dem Schreiben erwähnte Raymond auch eine Festung in den Pyrenäen.
Warum lag Philo so viel an diesem Schriftstück?
Da kam Jessica ein Gedanke: Nicht der Brief an sich war so wertvoll, es war sein Inhalt.
Eine geheime Bruderschaft.
Während die Jacht vor sich hin dümpelte und Terry an diversen Köstlichkeiten naschte, überschlugen sich Jessicas Gedanken.
Eine Bruderschaft wovon? Vom Heiligen Gral? Vom Blut Jesu? Eine geheime Vereinigung, von der selbst Jessica, die schon aus beruflichen Gründen über geheimste Verbindungen Bescheid zu wissen pflegte, noch nie gehört hatte. Ein Geheimbund, grübelte sie weiter, so geheim, dass sich Freimaurer daneben wie Exhibitionisten ausnahmen.
Raymond von Toulouse hatte geschrieben: »Man erkennt sie an ihrem Flammenring.«
Flammenring?
Der Ring an Philos rechter
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