Spuren des Todes (German Edition)
Anschlussgutachten, nicht selten nach Dienstschluss. Ein typischer Auftrag sah so aus: Im Krankenhaus verstarb ein Patient unmittelbar nach einer OP . Bei der Sektion stellte sich heraus, dass der Tod mit dem ärztlichen Eingriff in Zusammenhang stand. Nun gibt es bei Operationen oder anderen ärztlichen Eingriffen gewisse ›anerkannte‹ Komplikationen, eventuell mit tödlichem Ausgang. Kein Eingriff ist ohne Risiko. Es gilt also zu prüfen, ob dem Arzt ein Fehlverhalten nachzuweisen war, ob er gegen die zur Zeit des Eingriffes gültigen Regeln und Erkenntnisse der ärztlichen Kunst verstoßen hat.
Also standen solche Fragen im Raum wie: War dem Arzt ein Fehler unterlaufen, und wenn ja, konnte man ihm das nachweisen? War die OP überhaupt notwendig gewesen? Hatte er den Patienten vorher über die Risiken aufgeklärt, und war das dokumentiert worden? Damit kam die Staatsanwaltschaft dann zu uns. Also wühlte man sich durch Krankenunterlagen, um schlimmstenfalls irgendwann feststellen zu müssen, dass die Materie zu fachspezifisch war, es sich also empfahl, einen Fachgutachter hinzuzuziehen. Den musste man erst einmal finden und dann der Staatsanwaltschaft vorschlagen, ehe es weitergehen konnte. Ich vermute, man merkt schon, dass es Dinge gab, die ich lieber machte. Doch das gehörte eben auch dazu.
Manchmal fühlte ich mich wie in einem Hamsterrad. Ich arbeitete gern, das war es nicht, und ich schaute auch nicht auf die Uhr dabei, das geht in dem Beruf sowieso schlecht. Aber ich spürte, wie mich die Arbeit verschlang, weil mir immer etwas durch den Kopf spukte, das mit einem Fall zu tun hatte, der mich gerade beschäftigte. Ich fing an, alles andere zu vernachlässigen, selbst das Saxophonspielen. Obwohl ich das am meisten brauchte – als Ausgleich, um den Kopf wieder freizubekommen. Während ich spielte, und wenn es nur in meiner Wohnung für mich ganz allein war, schien die Welt in Ordnung.
Ich glaube es zwar nicht, aber wer weiß, vielleicht würde ich heute noch in dem Hamsterrad vor mich hin strampeln. Wenn man einmal drinsteckt, fällt einem oft gar nicht auf, dass es an der Zeit wäre, etwas zu ändern. Bei mir kam diese Erkenntnis auch eher unfreiwillig.
Das soll nicht heißen, dass ich am Institut in Hamburg unzufrieden oder gar unglücklich gewesen wäre. Ich habe viel von den Kollegen dort gelernt, und ich könnte mir keinen besseren Institutsleiter als Klaus Püschel vorstellen. Ihm verdanke ich eine Menge, im Grunde habe ich durch ihn zur Rechtsmedizin gefunden. Und vieles von dem, was ich heute bei der Arbeit anwende, hat er mir beigebracht. Wobei ihm das sicher nicht immer bewusst war. Ich habe es einfach von ihm übernommen, wie man das als Schüler bei einem guten Lehrer macht.
Aber ich war bei der Erkenntnis, die mich unfreiwillig ereilte: Dazu gibt es eine Vorgeschichte. Sie begann im Dezember 2004 , genauer gesagt am zweiten Weihnachtsfeiertag. In Asien bebte die Erde und löste verheerende Tsunamis an den Küsten des Indischen Ozeans aus. Eine der schlimmsten Naturkatastrophen in der neueren Geschichte der Menschheit. Über zweihunderttausend Menschen starben. Es gibt wohl niemanden, der sich nicht an die unfassbaren Bilder im Fernsehen erinnert.
Da schnell absehbar war, dass sich unter den Opfern viele Deutsche befanden, wurde die Identifizierungskommission des Bundeskriminalamts, kurz IDKO , mobilisiert. Diese Kommission besteht aus einem festen Team von BKA -Leuten, das im Bedarfsfall durch Rechtsmediziner, Zahnärzte, Psychologen, Seelsorger und Sektionsassistenten ergänzt wird. Sie funktioniert praktisch wie eine schnelle Eingreiftruppe. Bereits zwei Tage nach der Katastrophe flog ein erstes Team nach Thailand, ein zweites traf einen Tag später in Sri Lanka ein. Zum ersten Team gehörte ein Kollege, der damals bei uns am Institut arbeitete. Was er nach seiner Rückkehr berichtete, überstieg unsere Vorstellungskraft. In mehreren Tempelanlagen waren tausende Leichen aufgereiht worden. Temperaturen von über dreißig Grad Celsius und extrem hohe Luftfeuchtigkeit hatten wie Katalysatoren gewirkt, innerhalb kürzester Zeit waren die Toten durch Fäulnis und Verwesung bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Da es keine Kühlmöglichkeiten gab, wurde versucht, die Körper mit Trockeneis zu kühlen, was bei der Hitze nicht viel brachte. Es war kaum mehr möglich, die Leichen von Einheimischen und Touristen zu unterscheiden. In der Zwischenzeit hatten die Thailänder begonnen, ihre
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