Spuren im Nichts
Semesterferien, ein paar Einheimische auf Verdauungsspaziergang. Keine Touristen. Der Morgen war hell und wolkenlos, die Luft noch immer kühl, und vom Meer her wehte ein scharfer Wind.
Sie aktivierte das Selby-Programm und tippte Tora Kanes Nummer ein. Am anderen Ende der Leitung ertönte ein Freizeichen.
Ein paar Kinder mit Luftballons jagten durch die Straße. Kim beobachtete die lange Reihe von Brechern, die auf den Strand rollten.
»Hallo?«, meldete sich Tora Kanes Stimme. Das Bild blieb dunkel.
»Dr. Kane?«, fragte Kim, doch Tora würde die Stimme hören, die sie für Selby konstruiert hatte. »Mein Name ist Gabriel Martin. Ich war vor vielen Jahren der Anwalt Ihres Vaters.«
Die Videoübertragung wurde aktiviert. Tora trug eine hellblaue Bluse und weite blaue Hosen. Arbeitskleidung.
Sie blickte verwirrt drein. »Was kann ich für Sie tun, Mr. Martin?«
Kim aktivierte ihrerseits die Bildübertragung, und in Tora Kanes Projektionsfläche materialisierte die große, aristokratische Gestalt des Anwalts. »Doktor Kane, lassen Sie mich zunächst feststellen, dass Markis ein guter Freund war, nicht nur ein Mandant. Ich schulde ihm eine Menge Dank, doch darüber möchte ich jetzt gar nicht weiter sprechen; die Einzelheiten spielen wirklich keine Rolle.
Leider kann ich nichts mehr für Markis tun, möge er in Frieden ruhen. Doch ich bin in der glücklichen Position, wenigstens Ihnen ein paar Informationen zukommen zu lassen, die Sie möglicherweise ganz nützlich finden werden.«
Möge er in Frieden ruhen. Das hatte ziemlich gut geklungen, als sie es in das Skript aufgenommen hatte. Wie echte Rechtsanwälte sich mit ihren Mandanten unterhielten. Doch jetzt klang es so gestelzt und künstlich, dass sie sich auf die Unterlippe biss und fürchtete, Tora Kane könnte die Scharade durchschauen. Doch nichts dergleichen geschah.
»Ich weiß den Gedanken zu schätzen, Mr. Martin. Um welche Information handelt es sich?«
Für Tora stand der Anwalt vor seinem großen Schreibtisch, der übersät war mit Disks, Stiften und einem dicken Notizbuch. An der Wand hinter dem Schreibtisch hing eine ganze Reihe von Diplomen und Zertifikaten mit großen Bändern und Siegelstempeln und ein Bild von Martin, wie er dem Premier die Hand schüttelte. »Ich weiß nicht so recht, wie ich mich ausdrücken soll, Dr. Kane, denn es handelt sich im Grunde genommen nur um ein Gerücht. Allerdings stammt es aus eigentlich zuverlässigen Quellen.«
Tora wartete, dass er endlich auf den Punkt kam.
Martin alias Kim ließ sich Zeit. Er machte deutlich, dass er auf der absoluten Vertraulichkeit seiner Information bestand und dass er alles abstreiten würde, sollte sie auf den Gedanken kommen, Dritten gegenüber davon zu sprechen. Des Weiteren würde er sich in diesem Fall ganz aus der Angelegenheit zurückziehen.
»Ja«, sagte sie, und ihre Ungeduld wurde deutlich erkennbar. »Ich habe verstanden. Und was haben Sie mir nun mitzuteilen?«
»Ich habe gehört, dass die Regierung in den Besitz der Hunter- Logbücher gekommen ist. Der echten Logbücher, meine ich.«
Tora erbleichte, doch dann fing sie sich wieder. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, sagte sie. »Was für echte Logbücher? Soweit ich weiß, wurden die Logs der Hunter bereits vor einigen Jahren in das Archiv gebracht?«
»Dr. Kane.« Kim ließ Selbys Stimme zugleich mitfühlend und wohl informiert klingen. »Ich verstehe, dass es Ihnen widerstrebt, über diese Angelegenheit zu sprechen. Immerhin geht es hier um Gesetzesverletzungen, nicht wahr? Bei denen Sie sich der Mittäterschaft schuldig gemacht haben.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Ihr Tonfall wurde kalt. Sie schien sich zu fragen, wie viel ihr Anrufer tatsächlich wusste, und wahrscheinlicher noch, wie viel die Regierung in Erfahrung gebracht hatte.
»Schon gut, das macht nichts«, fuhr Kim in Martins Persona fort. »Ich bin in den Besitz dieser Informationen gelangt, weil Ihr Vater Freunde in den allerhöchsten Positionen hatte. Es gibt immer noch einige, die nicht möchten, dass sein guter Ruf geschädigt wird oder seiner Tochter etwas geschieht; oder dass Markis’ gesamter Besitz zum Gegenstand eines Rechtsstreits wird, was durchaus geschehen könnte, sollte sich herausstellen, dass gewisse Verdächtigungen zu Recht bestehen. Oder falls auch nur begründete Zweifel betreffend seiner Rolle beim Unglück vom Mount Hope aufkommen oder beim Tod von Yoshi Amara und Emily Brandywine. Ich weiß, dass Sie die
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