Spuren in der Wüste
daran und an nichts anderes.
Etwas war mit ihr vor sechs Jahren geschehen, das sie zu einer
Flüchtigen machte.
Wovor floh sie?
Vielleicht hatte sie selbst etwas getan, was sie nicht zur Ruhe
kommen ließ?
In New York wollte Werner sich gleich mit Kollegen in Verbin-
dung setzen. Wenn sie irgend etwas über Irene Blessing wußten,
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oder über ihren Mann Jim, so würde er es herausfinden.
Als er in Manhattan in die Fifth Avenue einbog, wurde Doris
wach, als sei das bis in ihre Träume gedrungen.
»Da sind wir«, sagte sie, und ihre Augen blitzten schon wieder
munter und unternehmungslustig.
Als Werner vor einer roten Ampel halten mußte, sprang sie aus
dem Wagen, schwang ihre Tasche über ihre Schulter, winkte und
rief: »Vielen Dank, Mister«, und im Anfahren sah er noch, daß sie
schon im Strom der Passanten verschwunden war.
Die Braunbachs in Friend's Farm hatten kein Glück, so schien es,
mit ihren Kindern.
Denn nun besaßen sie keines mehr.
Werners Nachforschungen in den Zeitungsarchiven von New York
blieben ergebnislos.
Es gab einfach keine Schauergeschichte über Irene und ihren
Mann, Jim Blessing.
Sol te er nach Kalifornien reisen? Aber wo dort mit der Suche be-
ginnen?
Er war schon ziemlich verzweifelt, als nach vier Tagen plötzlich
Doris ihn im Hotel aufsuchte.
»Sie sind ja immer noch hier«, sagte sie.
Er lud sie stumm, mit einer Handbewegung, zum Sitzen ein.
Sie blieb neben der Tür stehen.
»Ich habe nachgedacht«, sagte sie. Ihr Gesicht blieb vol kommen
ausdruckslos. »Wenn Ihnen wirklich an meiner Schwester liegt, sol -
ten Sie nach ihr in Jerusalem suchen.«
»Und was werde ich da finden?« fragte er.
»Das weiß ich nicht«, sagte Doris. »Darüber zerbreche ich mir
schon seit Jahren den Kopf, wenn ich Zeit dazu habe. Aber eines
weiß ich: Mit ihrem Mann war sie nicht glücklich. Wenn Sie mich
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fragen, war das ein ganz mieser Kerl.«
»Angenommen, ich fliege nach Israel, was haben Sie davon?«
»Ich wüßte gerne, was aus meiner Schwester geworden ist.« Doris
warf Werner eine kleine weiße Karte zu, sie fiel vor ihm auf den
goldbraunen Teppich.
Er hob die Visitenkarte auf, sah, daß Doris es in den vier Tagen
schon zu einer eigenen Adresse gebracht hatte.
»Mit zwei anderen Schülerinnen der Sterner-Agentur«, schränkte
sie ein, »aber Sie können sich drauf verlassen, ich schaffe es bis
ganz oben, bis zum Top!«
»Was ich Ihnen sogar glaube«, sagte er.
Doris lächelte, ganz anders als Irene, geheimnisvoll und vielver-
sprechend.
»Suchen Sie mein liebes Schwesterlein«, sagte sie, »vielleicht sehen wir uns dann auch mal wieder.«
Zuerst meuterte die Redaktion in Hamburg, denn der Urlaub, der
Werner noch zustand, war herum.
Aber er bestand darauf, noch eine Woche unbezahlten Urlaub zu
nehmen. Er mußte nach Israel.
Außerdem – Israel war immer für eine Story gut.
Dem jammernden Ludwig versprach er noch zwei Flaschen Whis-
ky und Zigaretten haufenweise und schließlich die neueste japa-
nische Kamera, die man im Duty-free-Shop kaufen konnte.
Ludwig ließ sich schließlich erweichen, und am Tag darauf flog
Werner nach Israel.
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rene sollte wieder mit einem der mysteriösen Umschläge nach
IBerlin fliegen.
Und um den Dunklen zu täuschen, bestellte sie telefonisch von
der Pension aus ein Flugbillet.
Sie war sicher, daß er es auf irgendeine Weise erfahren würde, weil
es ebenso gewiß war, daß er sie auf irgendeine Weise überwachen
ließ. Sie ging dann zu dem kleinen Kramladen, in dem sie für Ka-
tharina und sich immer eingekauft hatte und bat, daß sie von dort
aus telefonieren dürfe, da das Telefon in der Pension gestört sei.
Natürlich gestattete man das gern. Sie sah schon wieder gut aus,
den schlimmsten Schock durch den Tod der Tante hatte sie wohl
verwunden, nicht wahr?
Sie zwang sich zu einem Lächeln und nickte, und der Ladenbe-
sitzer führte sie in die Hinterstube und ließ sie allein.
Das Herz klopfte ihr bis in den Hals, als sie jene Telefonnummer
wählte, die der Mann ihr im Kempinski gegeben hatte, an dessen
Gesicht sie sich beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte.
Eine ruhige, tonlose Männerstimme sagte: »Ja?«
Und sie sagte: »Ich möchte Sie sehen.«
»Auf dem Domvorplatz.«
»Gut. Wann?«
»In einer Stunde. Füttern Sie die Tauben.«
»Wie erkenne ich Sie?«
»Ich verkaufe dort Blumen.«
Irene ging zu Fuß zum Dom.
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Sie schaute sich oft genug um; es schien ihr, als
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