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Spuren in der Wüste

Spuren in der Wüste

Titel: Spuren in der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Cordes
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folge ihr nie-
    mand. Sie würde den Umschlag übergeben. Und sie würde um
    Schutz bitten. Nur an diese beiden Dinge dachte sie.
    Sie mußte doch endlich zur Ruhe kommen. Es mußte doch ei-
    nen Ort geben, wo sie keine Angst mehr zu haben brauchte.
    Sie fütterte die Tauben mit Maiskörnern, die sie in dem Kramla-
    den erstanden hatte.

Der Blumenverkäufer näherte sich ihr.
    Sie kaufte einen Strauß Margeriten.
    Er sagte leise und sehr deutlich, und es war eine andere Stimme
    als zuvor am Telefon: »Im Domcafé werden Sie erwartet. Die Dame
    ist alt und liest eine englische Zeitung.«
    Irene betrat das Domcafé. Sie schaute sich ein wenig suchend
    um, aber da hörte sie auch schon eine durchdringend hohe Stim-
    me.
    »Oh, hallo, meine Liebe!« Und die alte Dame winkte ihr mit ihrer
    Zeitung. Irene ging zu ihr und ließ sich von der Fremden umar-
    men.
    Die Fremde mochte um die Siebzig sein, sie hatte violettgetöntes
    Haar. Sie trug eine Brille im gleichen Farbton, und ihr Tweedkos-
    tüm war in dezenten Grau- und Violettönen gehalten.
    Eine richtig nette alte Dame, dachte Irene.
    Sie genoß das Geplapper übers Wetter, sie genoß den Tee, der
    sofort serviert wurde.
    »Oh, meine Liebe, wie die Zeit vergeht! Das letztemal haben wir
    uns auf einer Kreuzfahrt gesehen, nicht wahr? Sie trugen so ein
    hübsches Abendkleid, weiße Spitze und Veilchen am Saum. Ent-
    zückend sahen Sie aus. Was für eine hübsche Tasche Sie da haben.
    Florenz? Natürlich! Also, ich muß Ihnen sagen, ich genieße jeden
    Augenblick in dieser herrlichen Stadt. So groß, so eindrucksvoll,
    der Dom, nicht wahr? Und so kosmopolitisch.« Und inzwischen
    hatten die alten kleinen zarten Hände das Geheimfach von Irenes
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    Tasche geschwind gefunden und geleert. Und die verblaßten blauen
    Augen zwinkerten ihr liebenswürdig zu. »Wohin führt Sie Ihre
    nächste Reise, meine Liebe?«
    »Nach Berlin.«
    »Ah, das Kempinski. Ich kannte es schon in den zwanziger Jah-
    ren. So elegant. Man sagt, Stalin habe das Silber des Kempinski ge-
    stohlen und es auflegen lassen, wenn er ausländische Gäste hatte.
    Ist das nicht köstlich?«
    »Ich brauche Schutz«, sagte Irene leise.
    »Aber, meine Liebe, eine junge Frau wie Sie braucht immer
    Schutz in diesen bösen Zeiten, nicht wahr? Oh, selbst in meinem
    Alter kann man sich kaum noch allein auf die Straße wagen, nicht
    wahr?«
    »Verstehen Sie doch.«
    »Aber ich verstehe Sie genau« – ein Blick auf eine mit Brillanten
    besetzte Armbanduhr –, »reisen Sie ohne Sorge. Wissen Sie was? Ich
    fliege einfach mit Ihnen. Ich brauche nur eine Kleinigkeit aus mei-
    nem Zimmer. Bis gleich –« Und damit entschwand die reizende alte
    Dame. Und Irene wartete und wartete, bestellte noch einen Tee,
    rauchte ziemlich unbeherrscht, was sie sich sonst nicht gestattete,
    und schließlich ging sie enttäuscht. Auf dem Bahnhofsvorplatz
    wurde sie von einem Taxi angefahren.
    Irene erwachte in einem weißen Zimmer. Es wurde nur von einer
    kleinen matten Birne über der Eingangstür erhellt.
    Der Dunkle saß an ihrem Bett.
    »Wo bin ich?«
    »Im Krankenhaus.«
    »Ich möchte sterben«, sagte sie. »Endlich sterben.«
    »Wir brauchen dich noch, und du wirst uns nicht mehr entkom-
    men.«
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    »Ich kann nicht mehr.«
    »Du kannst sehr wohl noch.«
    »Ich bin am Ende.«
    »Du hast eine kleine Gehirnerschütterung, das ist alles.«
    »Ich bringe mich um.«
    »Das wirst du nicht tun, denn wir passen auf dich auf.«
    Sie tastete zum Nachttisch. Da mußte doch eine Klingel sein.
    »Laß das«, sagte er. »Es wird ohnehin niemand kommen. Ich bin
    schließlich als dein Bruder da.«
    »Ich hasse Sie. Ja, und ich werde hingehen und gestehen –«
    »Nichts wirst du tun, außer uns zu gehorchen.«
    »Nein. Nie mehr. Ich will nicht mehr.«
    »Dann werden wir deinen Freund hops nehmen.«
    »Ich habe keine Freunde.«
    »Werner Holt.«
    Sie schloß die Augen, sie preßte fest die Lippen zusammen, um
    nicht aufzuschreien.
    »Siehst du«, sagte er, »du entkommst uns nicht. Oder möchtest
    du, daß dein Freund Werner Holt eines frühen Todes stirbt? Oder
    vielleicht zuerst seine Eltern?«
    »Warum quälen Sie mich so? Sind sechs Jahre nicht genug gewe-
    sen?«
    Er lachte. Sie hatte ihn noch nie lachen gehört.
    »Man wird mich in Zukunft vor Ihnen schützen. Ich bin – ich
    habe das Material weitergegeben.«
    »Damit hatten wir gerechnet«, sagte er verächtlich. »Glaubst du
    im Ernst, wir wüßten nicht, wie Menschen wie du

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