Spuren in der Wüste
Sie mich mit.«
»Was wollen Sie in New York?«
»Hier.« Sie angelte hinter sich, zog eine braune vollgestopfte
Schultertasche herauf, entnahm ihr einen Brief, gab ihn Werner.
»Lesen Sie schon«, sagte sie ungeduldig, als er den Umschlag zö-
gernd betrachtete.
Er las, daß Doris Braunbach von der Sterner Agency erwartet
wurde.
»Und wer ist das?«
»Eine Agentur, die Fotomodelle ausbildet und betreut.«
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»Du lieber Himmel!« sagte Werner. »Fallen da immer noch alle
Mädchen drauf rein?«
»Ich falle auf gar nichts herein.« Doris' Stimme klang sehr ruhig
und sehr fest. »Ich will nur mein eigenes Leben führen, und ich
werde es schaffen.«
»Aber wie sind Sie denn überhaupt an die Sterner-Agentur ge-
kommen?«
»Lilith, das ist unsere Postbeamtin, hat für mich dorthin geschrie-
ben und Fotos von mir geschickt, die sie gemacht hat. Und Sterner
hat prompt geantwortet, wie Sie sehen. Die bezahlen meine Reise
und meine Unterkunft. Und bei Eignung zum Modell werden sie
mich kostenlos ausbilden. Wenn ich dann meine ersten Aufträge
bekomme, muß ich zwanzig Prozent an die Agentur zahlen. Und
das ist nur fair. – Nehmen Sie mich jetzt mit nach New York? Sie
brauchen sich auch keine Gedanken zu machen, meine Eltern wer-
den mich bestimmt nicht von der Polizei suchen lassen, und außer-
dem bin ich längst volljährig. Ich bin zweiundzwanzig.«
Werner ließ langsam den Wagen wieder anrollen.
»Ist Irene auch deswegen von zu Hause fortgegangen, weil Ihre
Eltern so sind, wie sie sind?«
»Nein.«
Ein schneller Seitenblick von ihm, und er sah, Doris biß sich auf
die vollen roten Lippen, als habe sie schon zuviel gesagt.
»Also, was ist denn mit Irene los?«
»Nichts.«
»Jetzt lügen Sie. Und wenn Sie so weitermachen, setze ich Sie
doch noch aus dem Wagen.«
»Ich lüge nicht. Ich weiß nicht, was mit Irene ist. Wirklich nicht.
Ich weiß nur, daß sie seit sechs Jahren keine Verbindung mehr mit
uns hält.«
»Und vorher?«
»Vorher war sie verheiratet und lebte in Kalifornien.«
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»Sie ist Witwe?«
»Ja.«
»Hat Irene Kinder?«
»Nein.«
»Ich habe Ihre Schwester in Berlin kennengelernt.«
»Ich weiß.«
»Sie haben mein Gespräch mit Ihren Eltern belauscht?« fragte
Werner.
»Ja, natürlich!«
»Wie hieß Irenes Mann?«
»Jim Blessing.«
»Was war er von Beruf?«
»Vertreter.«
»Woran ist er gestorben?«
»An einer Lungenentzündung.«
»In Kalifornien?«
»Ja.«
»Sind Sie dessen sicher, oder haben Ihre Eltern das Ihnen nur
erzählt?«
»Natürlich haben meine Eltern es mir erzählt. Ich habe Irene ja
seit zehn Jahren nicht mehr gesehen.«
»Sie sind eine komische Familie, finden sie nicht? Normalerweise
hält man doch Kontakt, besucht sich, schreibt sich wenigstens.«
»Hören Sie, Mister, bis vor zehn Jahren haben wir ganz mies in
New York gehaust. Mein Vater war immer arbeitslos. Und meine
Mutter hat meine jüngeren Brüder, zwei waren es, anderen Leuten
zur Adoption gegeben. Und dann hat Irene den Jim geheiratet, und
da ging es uns endlich besser. Da konnten meine Eltern raus nach
Friend's Farm ziehen. Ich weiß nicht, was mit Irene passiert ist und warum sie uns nie besucht hat. Ich weiß nur, daß man durch ein
Leben, wie meine Eltern es geführt haben, hart wird. Und ich wil 's
nicht werden. Und deswegen will ich weg.«
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»Na schön«, sagte Werner, »aber irgendwann einmal, zwischen-
durch, haben Sie da nicht doch eine Nachricht von Irene bekom-
men?«
Doris kaute auf ihren Lippen.
»Ja«, gab sie widerwillig zu. »Letzte Ostern. Da kam eine Ansichts-
karte aus Jerusalem. Ich erinnere mich, weil Lilith die Marken ha-
ben wollte. Und deswegen erinnere ich mich auch, daß Mutter ge-
sagt hat, Irene zöge es immer wieder dahin zurück.«
»Nach Jerusalem? Wieso ausgerechnet dahin?«
»Ich weiß es nicht.«
»Doris, versuchen Sie doch, sich zu erinnern.«
»Ich weiß es wirklich nicht.«
»Ich glaube, wenn Sie es wirklich wollten, könnten Sie mir hel-
fen.«
»Fliegen Sie doch mal nach Jerusalem und suchen Sie mein
Schwesterlein. Wer suchet, der findet!«
»Doris, falls Ihnen etwas einfällt, bitte rufen Sie mich im Hotel
an. Hier ist die Telefonnummer.« Er gab ihr eine Hotelkarte.
Doris ließ sich tiefer in den Wagensitz gleiten, zog die Beine an,
legte den Kopf auf die Knie und war Sekunden später fest einge-
schlafen.
Werner mußte Irene finden, nur daran dachte er, als er zurück nach
New York fuhr, nur
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