Spurlos in der Nacht
anderes gewesen sein.»
«Einen Tag vorher gab es in Majorstua einen Handtaschenraub.» Thorsen zog ein Blatt Papier aus einem Ordner. «Alte Dame, vierundachtzig, von einem jungen Mann auf einem Fahrrad bestohlen. Die Ermittlungen werden natürlich eingestellt, wenn wir nichts finden, was diesen Fall interessant macht.»
Eine der Rezeptionsdamen rief jetzt bei Cato Isaksen an und sagte, sein Sohn sei eingetroffen. Sitze unten in der Rezeption und warte auf ihn. Cato Isaksen erhob sich und lief zur Tür.
Der Fünfjährige war schmutzig und verrotzt und nass.
«Ich hab Wasser in den Stiefeln, Papa», sagte er. «Können wir heute richtig Polizeiauto fahren?»
Cato Isaksen nickte der Rezeptionsdame kurz zu und legte dem Jungen den Arm um die Schultern.
«Nicht heute», sagte er.
«Ich zieh meine Stiefel aus», sagte Georg und streifte die blauen Cherrox mit Augen und Zähnen an der Spitze ab.
Cato Isaksen bückte sich und las sie auf. Die feuchten Kinderfüße hatten auf dem Fußboden kleine Spuren hinterlassen.
Als sie wieder nach oben kamen, war die Besprechung zu Ende gegangen. Alle machten sich wieder an ihre Arbeit. Ingeborg Myklebust war zum Glück nicht zu sehen. Er konnte ihre spitzen Bemerkungen, die immer fielen, wenn er sich um seinen Sohn kümmern musste, nicht mehr ausstehen. In vieler Hinsicht war seine Chefin eine umgekehrte Feministin. Sie ärgerte sich maßlos, wenn ein Kollege sich um seine Kinder kümmern musste. Für sie gab es nur die Arbeit, die kam vor allem anderen.
«Ich muss nur noch schnell was erledigen», sagte Cato Isaksen zu seinem Sohn, der seine Mütze abgezogen hatte. Seine Haare waren struppig und schweißnass. Ein Schmutzstreifen zog sich von seinem Ohr über die Wange bis zur Mitte des Halses.
Cato Isaksen suchte die Vernehmung der Zeugin heraus, die in der Nacht an Kathrine Bjerke vorbei gefahren war. Die Frau, die in Drøbak wohnte und ein kleines Kind hatte, war am 20. Februar um kurz nach Mitternacht auf den Tunneleingang zugefahren. Sie hatte ihren Mann von der Arbeit im Rainbow Hotel in Rjukan abholen wollen.
Während Georg alle Schubladen in den drei Aktenschränken öffnete und schloss, vertiefte der Fahnder sich in das Vernehmungsprotokoll.
Vernehmung von Heidi Greaker, * 06. 05. 1975
Ein Mädchen stand an der Bushaltestelle vor der Einfahrt zum Tunnel. (Zusatzauskunft: Oslofjordtunnel, Drebakufer.) Das Mädchen, bei dem es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Kathrine Bjerke, von nun an KB genannt, handelte, stützte sich auf zwei Krücken und hatte einen Fuß auf den anderen gestellt. Sie trug einen schwarzen Snowjogger, von der modernen Sorte mit dicker, schwerer Sohle. Der andere Fuß war eingegipst. Die Scheinwerfer fingen ihr Bild ein und leuchteten die junge Frau einige Sekunden lang an. Sie trug einen beigen Dufflecoat und hatte halblange blonde Haare. (Stimmt mit den Auskünften der Mutter überein.) Sie hatte ein ernstes Gesicht. Die Zeugin, von nun an HG, schätzt sie auf zwölf oder dreizehn, sie kann natürlich aber auch bereits vierzehn sein. Sie hatte deutliche Ähnlichkeit mit der vermissten Kathrine Bjerke. Die Zeugin HG sagt: Obwohl ich sie nur einige Sekunden lang gesehen habe, erinnere ich mich so gut daran, weil das Bild so beunruhigend wirkte, junge Mädchen sollten nachts nicht allein unterwegs sein. Jedenfalls nicht so junge Mädchen. HG sagt, sie habe selber eine kleine Tochter, deshalb sei ihr das Mädchen so aufgefallen.
Die Straße führt an der Bushaltestelle vorbei und dann auf den Verteilerkreis. Es war kurz nach Mitternacht, am Dienstag, den 20. Februar. HG sagt, es muss unter Null gewesen sein, denn die Straße war mit Reif bedeckt und ziemlich glatt. In der Luft hing ein leichter Nieselregen, sagt HG, deshalb musste sie die Nebelscheinwerfer einschalten.
Die Tür öffnete sich. Roger Høibakk kam herein.
«Ich fahre jetzt nach Hause», sagte er. «Ich weiß schon gar nicht mehr, wann ich zuletzt geschlafen habe.»
Cato Isaksen faltete das Protokoll zusammen und heftete es wieder in den Ordner. Dann nahm er das kleine Tonband heraus, auf dem die Vernehmung zu hören war, und legte es ins Tonbandgerät ein. Georg knallte so hart mit den Schubladen, dass es seinem Vater in den Ohren wehtat. «Lass das», rief Cato Isaksen seinem Sohn zu, und der schaute ihn verdutzt an.
Roger Høibakk ging zu dem Jungen hinüber und fuhr ihm durch die Haare.
«Gut, dass Ellen heiratet», sagte er. «Dann produziert dein viriler Vater nicht
Weitere Kostenlose Bücher