Sputnik Sweetheart
Erst viel später wurde mir klar, dass sie die Ausnahme sind.
Wie wir darauf gekommen waren, weiß ich nicht mehr, aber ich hatte Sumire diese Geschichte vor langer Zeit einmal erzählt. Vielleicht, als wir über sexuelle Begierde sprachen. Meist gebe ich eine ehrliche Antwort, wenn ich etwas gefragt werde.
»Und was soll der Sinn von dieser Geschichte sein?« fragte Sumire.
»Man soll aufmerksam sein«, sagte ich. »Die Welt unvoreingenommen beurteilen, die Ohren spitzen, Herz und Augen offen halten.«
»Hm«, machte Sumire. Sie schien über mein bescheidenes sexuelles Abenteuer nachzudenken. Vielleicht überlegte sie, ob sie es in einen ihrer Romane einarbeiten sollte.
»Jedenfalls hast du ganz schön viel Erfahrung.«
»Zufällige Erlebnisse scheint mir eher das richtige Wort zu sein«, widersprach ich lau.
Nachdenklich knabberte sie an ihren Nägeln. »Aber wie kann man Aufmerksamkeit lernen? Wenn’s ernst wird, denken: aufgepasst und die Ohren gespitzt? Ob das so auf Anhieb klappt? Kannst du mir das nicht konkreter beschreiben? Mit einem Beispiel?«
»Ich stelle mir vor, dass du dich erst einmal entspannen musst. Von eins bis zehn zählen oder so.«
»Und was noch?«
»Du könntest natürlich auch an eine Gurke im Kühlschrank an einem Sommernachmittag denken.«
»Moment mal«, sagte Sumire und machte eine kleine Pause. »Soll das heißen, du stellst dir, wenn du mit einem Mädchen schläfst, eine Gurke im Kühlschrank an einem Sommernachmittag vor?«
»Nicht jedes Mal«, erwiderte ich.
»Aber manchmal?«
»Ja, manchmal schon.«
Sumire runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Du bist noch seltsamer, als du aussiehst.«
»Alle Menschen sind irgendwie seltsam«, sagte ich.
»Während Miu in diesem Restaurant meine Hand hielt und mir tief in die Augen sah, dachte ich die ganze Zeit an Gurken«, erzählte Sumire. »Ruhig bleiben und Ohren spitzen, sagte ich mir.«
»Gurken?«
»Weißt du nicht mehr, was du mir von den Gurken im Kühlschrank an einem Sommernachmittag erzählt hast?«
»Ach so, ja, stimmt.« Jetzt fiel es mir wieder ein. »Und, hat es ein bisschen genützt?«
»Ja, ein bisschen.«
»Zum Glück«, sagte ich.
Sumire nahm den Faden ihrer Erzählung wieder auf.
»Mius Wohnung liegt ganz in der Nähe von dem Restaurant. Sie ist nicht groß, aber sehr schön. Sie hat eine sonnige Veranda, Topfpflanzen, ein italienisches Ledersofa, Bose-Lautsprecher, Holzschnitte und einen Parkplatz mit Jaguar. Sie wohnt allein dort. Das Haus, in dem sie mit ihrem Mann lebt und ihre Wochenenden verbringt, ist in Setagaya. Normalerweise übernachtet sie allein in ihrer Wohnung in Aoyama. Und jetzt rate mal, was sie mir gezeigt hat?«
»Mark Bolans liebste Schlangenledersandalen in einer Glasvitrine. Eines der unschätzbaren Zeugnisse, ohne die die Geschichte des Rock ‘n’ Roll nicht auskommt. Keine Schuppe ist abgefallen, und auf der Sohle steht ein Autogramm. Seine Fans würden verrückt.«
Sumire runzelte die Stirn und seufzte. »Wenn man ein Auto erfinden würde, das mit dummen Witzen betankt wird, kämst du unheimlich weit.«
»Das liegt nur an meiner intellektuellen Beschränktheit«, erwiderte ich demütig.
»Dann gib dir jetzt mal ernsthaft Mühe. Was hat sie mir gezeigt? Wenn du es rätst, zahle ich die Rechnung.«
Ich räusperte mich. »Sie hat dir die göttlichen Klamotten gezeigt, die du anhast. Und gesagt, du sollst sie zur Arbeit tragen.«
»Du hast’s erfasst«, sagte Sumire. »Sie hat eine Freundin, die ungefähr die gleiche Größe hat wie ich. Die ist reich und hat eine Menge Kleider, die sie nicht mehr anzieht. Es geht schon komisch zu auf der Welt, oder? Manche Leute haben so viele Sachen, dass sie nicht mehr in ihren Schrank passen, und andere bringen es nicht mal zu einem Paar passender Socken. Egal, mir macht das nichts aus. Jedenfalls ist sie zu ihrer Freundin rübergegangen und hat einen Arm voll ›abgelegter‹ Sachen geholt. Wenn man genau hinguckt, sieht man, dass sie ein bisschen aus der Mode sind, aber sonst merkt man nichts, oder?«
Ich würde sowieso nichts merken, egal wie genau ich hinsähe, erklärte ich.
Sumire lächelte zufrieden. »Die Größe stimmt haargenau. Kleider, Blusen, Röcke – alles. An der Taille muss man sie ein bisschen enger machen lassen, aber wenn ich einfach einen Gürtel umbinde, ist das auch kein Problem. Zum Glück habe ich die gleiche Schuhgröße wie Miu, und sie hat mir einige Paare gegeben, die sie nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher