St. Leger 01 - Der Fluch Der Feuerfrau
entschlossen ist, seine Pflicht zu tun. Er senkte den Kopf und presste seine Lippen auf die der Cousine. Madeline sah ebenso entsetzt wie verblüfft zu. Nach einem schwachen Versuch, sich zu wehren, erschlaffte die arme Harriet in Anatoles Armen - schließlich war sie nie zuvor von einem Mann geküsst worden.
Genauso wenig wie Madeline. Auch hatte sie niemals einen Mann gesehen, der mit so roher Leidenschaft küsste wie ihr Gatte. Fast glaubte sie schon, die Hitze seiner Lippen auf ihrem eigenen Mund zu spüren. Als die junge Frau leicht mit einem Finger über ihre Lippen strich, bekam sie eine Gänsehaut.
Endlich ließ Anatole von der Base ab und verzog den Mund in einer Art, die wohl ein Lächeln sein sollte; ganz sicher war Madeline aber nicht. Ihre Base starrte den Mann mit rotem Gesicht und aufgerissenen Augen an. So weit die junge Frau sich erinnern konnte, hatte sie Harriet noch nie sprachlos erlebt. Doch genau dies geschah hier und jetzt. Ein langer Moment verging, ehe die Base vernehmlich einatmen konnte. Dann blinzelte sie und gab einige erstickte Laute von sich. Schließlich rannte Harriet an dem nun seinerseits verwirrten Anatole vorbei und stolperte die Treppe hinunter. Sie kam auch tatsächlich bis zur letzten Stufe, wo ihre Beine nachgaben. Ohnmächtig sank sie gegen Robert und riss ihn mit zu Boden. Dunkles Rot zeigte sich auf St. Legers Hals, breitete sich aus und bedeckte schließlich seine stolzen Wangen. Schweigen legte sich über die Szene, in der Madeline nichts anderes mehr wahrnahm als das überlaute Klopfen ihres Herzens.
Eigentlich wäre sie gern an Harriets Seite geeilt, aber sie konnte sich nicht von der Stelle rühren. Außerdem versperrte Anatole ihr wie ein Berg voller verletztem männlichen Stolz den Weg. Madeline wusste nicht, ob St. Leger sie bislang überhaupt wahrgenommen hatte. Wenn ja, dann hatte er sie inzwischen vollkommen vergessen. Irgendwer müsste jetzt vortreten und ihn über seinen Irrtum aufklären, aber als die junge Frau sich zu ihrer Entourage umdrehte, erkannte sie rasch, dass sie von dort keine Hilfe erwarten durfte. Die Diener, Kutscher und Reiter wagten nicht einmal, sie anzusehen, geschweige denn, die
Treppe hinaufzusteigen und den Riesen Anatole daraufhinzuweisen, dass er sich gerade zu einem kolossalen Narren gemacht habe.
Die meisten standen rings um die bewusstlose Harriet zusammen und beratschlagten, was zu tun sei, denn Harriet gab zwischendurch ein heulendes Stöhnen von sich. Anatole warf noch einen Blick auf seine vermeintliche Braut, drehte sich dann abrupt um und stürmte zur Tür. In wenigen Sekunden würde er sich in seiner Festung verbarrikadiert haben und immer noch nicht wissen, dass seine echte Braut nur wenige Meter von ihm entfernt stand, wenn auch ängstlich wie ein Mäuschen. Als Madeline sich ihrer Feigheit bewusst wurde, riss sie sich zusammen und eilte dem Riesen hinterher. An der Tür holte sie ihn ein und zupfte an seinem Umhang. »Mr. St. Leger, Anatole, Sir...« Die junge Frau kam sich wie eine Idiotin vor, weil sie nicht einmal wusste, wie sie ihren Ehemann anreden sollte.
Er drehte sich zu ihr um, und zum ersten Mal bekam sie die ganze Eindringlichkeit seiner dunklen Augen zu spüren, bei der man unwillkürlich zurückschrak. Madeline zog sofort die Hand zurück. »Ja? Was?«, schnappte er.
»Ich ... äh ... es geht um Eure Braut... Und ich... äh ... ich wollte Euch mitteilen ...«
»Da gibt es nichts mehr mitzuteilen. Das vorhin war ja wohl eindeutig: Meine neue Frau fürchtet sich vor mir zu Tode.« Etwas blitzte in seinen Augen auf, was Madeline an Verzweiflung erinnerte. War es denn möglich, dass dieser grobe, wuchtige Kerl auch empfindsamere Seiten hatte? »Ihr habt einen Fehler begangen, Sir ... Die Lady, die Ihr eben geküsst habt, war nicht Eure Braut... die bin nämlich ich.« So, nun war es heraus.
»Ihr?« Er schaute sie so grimmig an, dass sie unwillkürlich zusammenzuckte.
»Ja, ich bin Madeline Bret-, nein, St. Leger.« Sie zwang sich zu einem Lächeln, das gleich wieder verging, als er einen Schritt auf sie zu trat.
Seine Augen zogen sich zusammen, während sein Blick über ihr elegantes Kleid, die Pelisse, die sorgsam gepuderte Perücke und den teuren Hut wanderten, die allesamt nicht in diese raue Gegend zu passen schienen. Anatole trat einen Schritt nach links, so als wolle er um sie herumgehen und sie von allen Seiten betrachten. Madeline war die Vorstellung unerträglich. Sie kam sich vor wie ein
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