ST - New Frontier 5: Ort der Stille
spürte sie, wie ihre Mutter sie ansah. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Tür sich langsam wieder schloss. Nachdem sie sich so lange gezwungen hatte, ruhig zu atmen, stieß Riella nun unwillkürlich einen schweren Seufzer aus, und sie spürte, wie ihr Herz flatterte.
Dann hörte sie etwas anderes, das sie sehr verwirrte. Ihre Mutter sprach mit jemandem, aber es wäre ihr neu, dass ihre Mutter irgendwelche Gäste erwartet hätte. Diese Tatsache war auch deshalb einzigartig, weil sich Riella gar nicht mehr an das letzte Mal erinnern konnte, als jemand in ihrem Haus zu Gast gewesen war. Gäste waren nicht einfach eine Seltenheit, es hatte nie welche gegeben. Natürlich wurde Riellas Neugier geweckt, aber sie wollte nichts unternehmen, das die Aufmerksamkeit auf sie gelenkt hätte.
Sehr vorsichtig und sehr leise zog Riella die Beine unter der Bettdecke hervor. Mit übertriebener Behutsamkeit trat sie auf den Boden und wartete ab, ob die Dielen unter ihren Füßen knarrten. Aber es blieb still. Sie strengte ihr Gehör an und konzentrierte sich auf das Gemurmel, das aus dem Nebenzimmer drang. Es war eindeutig die Stimme ihrer Mutter und die einer anderen Person. Sie war sich nicht völlig sicher, aber sie glaubte, dass es eine männliche Stimme war. Dieser Umstand war noch ungewöhnlicher. Sie hatte ihre Mutter gelegentlich beobachtet, wie sie in der Stadt mit anderen Frauen geplaudert hatte, aber niemals mit einem Mann.
Sie lächelte still. Konnte es sein, dass ihre Mutter ein Leben führte, das sie vor Riella geheim halten wollte? Dass es um einen Mann ging und ihre Mutter glaubte, Riella würde sich über eine mögliche Romanze aufregen? Es war einfach rührend … geradezu niedlich. Als gäbe es irgendetwas auf der Welt, das Riella ihr nicht gönnen würde. Schließlich war sie ihr stets eine wunderbare Mutter gewesen.
Sie schlich unendlich langsam zur Tür und öffnete sie einen winzigen Spalt. Die Stimmen kamen eindeutig aus dem oberen Wohnzimmer, das gleich auf der anderen Seite des kleinen Korridors lag. Riella überlegte, ob sie sich mit äußerster Vorsicht bis zum Durchgang schieben konnte, um einen Blick ins Wohnzimmer zu werfen, ohne selbst gesehen zu werden. Vielleicht klappte es, wenn sie auf Händen und Füßen hinüberkroch. Sie musste den Drang unterdrücken, leise zu kichern. Sie kam sich wie ein kleines Mädchen vor, wenn sie sich auf diese Weise durch die Wohnung schlich.
Sie ging in die Hocke und schob sich auf allen Vieren durch den Korridor. Als sich ihr Knie in ihrem Nachthemd verhakte, wäre sie beinahe mit dem Gesicht auf den Boden geknallt. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre über dieses Missgeschick in schallendes Gelächter ausgebrochen. Aber sie konnte sich beherrschen. Sie raffte ihr Nachthemd und kroch weiter.
Sie begnügte sich mit einem Beobachtungswinkel, von dem aus sie zumindest die Beine der beiden sehen konnte. Sie saßen sich gegenüber und sie konnte ihre Waden und die Schuhe und gelegentlich eine gestikulierende Hand ausmachen. Der Mann trug schwarze Handschuhe, was ihr etwas ungewöhnlich vorkam, wenn man bedachte, dass das Wetter eher mild war.
Dann gefror ihr Blut, als sie hörte, worum es in ihrem Gespräch ging.
»Glauben Sie mir, ihre Träume haben aufgehört. Sie sagt mir alles. Wenn sie immer noch träumen würde, hätte ich zweifellos davon erfahren.«
Der Mann antwortete sehr leise, als müsste er sich beherrschen. Es war nicht leicht, ihn zu verstehen. »Das«, schien er zu sagen, »wäre äußerst bedauerlich.«
»Warum? Vielleicht ist sie gar nicht die Auserwählte …«
»Doch, sie ist die Auserwählte«, sagte der Mann. Riella konnte seine zu Fäusten geballten Handschuhe sehen. »Ich weiß es. Ich weigere mich einfach zu glauben, dass wir so viel Zeit mit ihr vergeudet haben. Wenn die Träume anfangen, hören sie nicht mehr auf. In der gesamten Geschichte unseres Volkes war es noch nie anders.«
»Aber vielleicht ist es diesmal …«
»Nein. Es ist viel wahrscheinlicher, dass sie Sie lediglich getäuscht hat.«
»Warum sollte sie versuchen, mich zu täuschen?«, fragte Malia zurück. Ihre Stimme klang sehr gereizt. »Was sollte sie damit bezwecken?«
»Vielleicht vertraut sie Ihnen nicht. Vielleicht hat sie herausgefunden, dass …«
»Nein, das hat sie nicht.« Ihre Mutter sprach in einem Tonfall, den Riella noch nie zuvor gehört hatte. In ihrem ganzen Leben hatte sie ihre Mutter nur mit einem Unterton von Liebe, Zuneigung und
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