Stachel der Erinnerung
Geröll und die Schlammbrocken in Eimer zu schaufeln, die sie an einem Seil zu Boden ließen.
Tessa reinigte die Umgebung der Stelle, an der die Ketten an den Planken befestigt waren, und kniete sich vor die Beschläge. Sie benützte einen Schraubenzieher als Hebel, um die Beschläge vorsichtig von allen Seiten zu lockern. Das funktionierte besser, als sie gedacht hatte, denn das Holz war nass und von einer beinahe schwammigen Konsistenz. Im selben Moment, als Berit hinter ihr rief: „Ich hab’s!“, hatte auch sie die Beschläge von den Planken gelöst. Sie legte sie in einen leeren Eimer und trug ihn zu Berit, die ihre dazupackte. Der Inhalt erinnerte an zusammengerollte Krakenarme.
„Sollten wir den Schmutz, den die Männer vom Schiff schaffen, darauf untersuchen, ob sich darin Knochenstücke befinden? Es ist doch möglich, dass das Skelett aus den Ketten gerutscht ist, als der Gletscher das Schiff freigegeben hat. Und sich die Knochen über das ganze Deck verteilten.“ Berit ließ ihre Blicke über die Planken wandern. „Dumm, dass ich daran nicht schon früher gedacht habe.“
„Vielleicht hast du recht. Lass uns unten den Schotter genauer untersuchen. Wer weiß, was wir da noch finden.“
Gemeinsam trugen sie den Eimer mit den Ketten zur Reling und hängten ihn in das Seil, das zum Boden führte. Dann kletterten sie über das Gerüst nach unten. Die Schlammbrocken vom Deck des Schiffs waren einige Schritte davon entfernt aufgehäuft. Berit knipste die Lampe auf ihrem Helm an und funktionierte einen der herumliegenden Gerüststäbe zu einem Suchstock um. Tessa sah ihr eine Weile zu, ehe sie ebenfalls damit anfing, in dem Geröll und Schlammhaufen zu stochern. Doch es gab nicht den geringsten Hinweis auf etwas anderes als Schmutz und Steine. Keine Kleidungsstücke, keine Knochen, keine Münzen oder sonstige, leicht zu übersehende Funde. „Das Schiff ist leer. Wir müssen uns wohl damit abfinden“, sagte Tessa schließlich und rammte ihren Stab mit einer endgültigen Geste senkrecht in den Boden. „Ich gehe hinunter zum See und reinige die Ketten vom größten Schmutz.“
Berit blickte nicht auf, sondern fuhr fort, verbissen in dem Geröll herumzustochern. „Ich mache hier noch ein bisschen weiter.“
Tessa hatte mit dem Eimer noch nicht einmal das Schiff umrundet, als auch schon Hendrik auftauchte und ihn ihr aus der Hand nahm. Da die Ketten schwerer waren, als sie gedacht hatte, protestierte sie nicht, sondern fügte sich in ihr Schicksal.
„Du gehst zum See damit?“, erkundigte er sich aufgeräumt.
„Ja. Sieht so aus, als wäre das alles, was wir auf dem Schiff finden werden.“ Ihre Stimme klang enttäuscht und er hörte es.
„Warte doch ab, bis das Schiff zur Gänze geborgen ist“, entgegnete Hendrik aufmunternd. „Bis jetzt sehen wir nicht mal die Hälfte. Vielleicht wurde auch schon geplündert.“
Tessa runzelte die Stirn. „Ich dachte, das Schiff wurde bewacht seit man seinen Fund gemeldet hat.“
„Ja, aber wer weiß, wie lange es schon für jedermann, vor allem für die Touristen, frei zur Bedienung gestanden hat. Wäre also kein Wunder, dass nur Sachen zurückgeblieben sind, die man im wahrsten Sinne des Wortes angenagelt hat.“
Das war natürlich eine Möglichkeit, an die niemand gedacht hatte. „Hast du Spuren gefunden, dass bereits jemand auf dem Schiff war, ehe du mit den Bergungsarbeiten angefangen hast?“
„Nein. Sah alles aus, als wäre es seit Menschengedenken unter Schmutz verborgen gewesen. Aber mit hundertprozentiger Sicherheit kann man es natürlich nicht sagen.“ Er stieg vor ihr den schmalen, steilen Pfad hinunter, der direkt an den See führte. Das Ufer war mit Kieselsteinen bedeckt und fiel sanft zum Wasser hin ab. Hendrik stellte den Eimer nieder und begann die Ketten herauszuziehen. „Von Berit weiß ich, dass sie sehr ehrgeizig ist. Sie will ihren Namen für alle Ewigkeit in den Olymp der Wikingerexperten eingemeißelt haben. Und du?“
Tessa hockte sich nieder und entwirrte die im Wasser liegenden Ketten. „Mein Name ist bereits in den Olymp der Wikingerfachleute eingemeißelt“, sagte sie und hoffte, dass ihre Stimme ihre Bitterkeit nicht verriet. „Dafür hat mein Vater gesorgt.“
„Na, dann hast du eine Bürde weniger. Und kannst dich wichtigeren Dingen zuwenden.“ Er blinzelte ihr zu und sie senkte hastig den Kopf, um die verräterische Röte in ihren Wangen zu verbergen. Statt einer Antwort rieb sie energisch den angetrockneten Lehm
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