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Stachel der Erinnerung

Stachel der Erinnerung

Titel: Stachel der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Henz
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erleichtern. Möglicherweise suchten sie auch eine Wasserstelle auf – oder holten Wasser von einem im nahen Umkreis befindlichen Brunnen.
    Die Frau neben ihr ließ einen an einer Kette baumelnden Topf auf die Feuerstelle herab und schüttete aus einem Eimer Wasser hinein. „Alva, hol die Gerste“, befahl sie und Tessa stand auf. Sie hatte keine Ahnung, wo sich das Gewünschte befinden sollte. Unauffällig musterte sie die verschlossenen Tongefäße auf den Regalen und nahm schließlich eines der größeren Gefäße. Sie hatte Glück, denn es enthielt tatsächlich Gerstenkörner. Die beiden Mahlsteine hatte sie schnell entdeckt, und mit gespannter Neugier, begann sie die Körner damit zu schroten. Dinge zu tun, die man nur aus überlieferten Berichten kannte, barg ein gewisses Potenzial an Überraschungen … Wider Erwarten machte sie ihre Sache gut, denn die Frau warf die geschroteten Gerstenkörner ohne ein weiteres Wort in den Kessel.
    Wenig später saßen alle Bewohner um die Feuerstelle und hielten tiefe Holzteller und Schüsseln in den Händen. Ein Krug mit Milch ging von Hand zu Hand, jeder der Lust hatte, nahm einen Schluck davon. Tessa blieb abseits und beobachtete das Ganze. Die Frau rührte mit einer großen Schöpfkelle in dem Topf und klatsche schließlich jedem eine Portion auf den Teller, ehe sie sich selbst bediente.
    Tessa stand außerhalb des Lichtkreises im Dunklen. Sie ließ ihre Blicke über die Menschen wandern, und während sie das tat, tauchten blitzlichtartig Namen in ihrem Kopf auf. Das Mädchen links vorne hieß Vilde, ihre ältere Schwester daneben Marte. Die Frau, die sie vorhin so angeherrscht hatte, war Ingrid.
    Der Mann, der auf einem Hocker saß und eine Hose aus rot gefärbter Wolle trug, hörte auf den Namen Arne. Sein dunkelblondes Haar besaß dieselbe Farbe wie der dichte Bart und fiel ihm in dicken Locken auf die Schultern. Er war der Häuptling, womöglich sogar der Jarl dieses Landstrichs.
    Arnes Frau Zora saß neben ihm, zu seinen Füßen hockte ein zierliches blondes Mädchen in einem blauen Hemd. Darüber hatte sie bereits ein beigefarbenes Überkleid angelegt und mit zwei ovalen Fibeln unter der Schulter befestigt. Ihre fein geschnittenen Züge standen in krassem Gegensatz zu den kräftigen, starkknochigen Gesichtern der anderen. Sie war Arnes siebzehnjährige Tochter Meldis.
    Tessa wusste nicht, woher dieses Wissen kam, es war einfach da. Vielleicht stammte es aus Alvas Bewusstsein. Das würde besagen, dass sich die richtige Alva noch immer in diesem Körper befand, ebenso wie Tessa. Was das letztendlich bedeutete, würde sich noch zeigen.
    Nach dem Frühstück zerstreuten sich die Bewohner wieder. Marte und Frida schleppten die benutzten Holzteller in einem großen Korb nach draußen. Tessa wartete unschlüssig.
    Meldis kam auf sie zu. „Warum hast du nichts gegessen?“
    „Ich …“, Tessa räusperte sich, „ich hatte keinen Hunger.“
    „Fühlst du dich noch immer schlecht?“ Meldis Stimme klang besorgt und Tessa suchte verzweifelt nach einer passenden Antwort. „Nicht mehr so schlecht wie gestern, aber auch noch nicht richtig gut“, erwiderte sie vage.
    „Ich werde Mutter sagen, dass du mir heute bei Vaters Mantel hilfst. Er will ihn am Abend tragen, also müssen wir uns ohnehin sputen. Dann brauchst du dich nicht den ganzen Tag von Ingrid herumkommandieren zu lassen und die schweren Pfannen und Töpfe schleppen. Aber vorher musst du mir noch mit meinem Haar helfen. Komm, lass uns nach draußen gehen.“
    Sie setzte sich auf eine Holzbank, die an der Hauswand angebracht war, und reichte Tessa einen feinzinkigen Kamm aus Bein und mehrere seltsam geformte Haarnadeln aus Bernstein. „Mach einfach zwei Zöpfe und steck sie mir im Nacken zusammen. Nichts Aufgetürmtes.“
    Leicht gesagt. Tessa kämmte und flocht die seidigen Strähnen zu zwei Zöpfen und überlegte, wie sie Meldis’ Wunsch nachkommen konnte. Schließlich rollte sie die Zöpfe zu einer Schnecke und befestigte diese mit den zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln am Hinterkopf. Dafür, dass sie sich zum ersten Mal als Friseuse betätigte, war das Ergebnis gar nicht so schlecht.
    Auch Meldis schien zufrieden. Sie befahl einem der vorbeieilenden Mädchen, den Mantel samt Nähzeug zu bringen. Der Mantel bestand aus tiefblau gefärbter Wolle. Eine mit Goldfäden bestickte Seidenborte lief am Saum entlang. Der Saum selbst war mit einem weißen Fellstreifen besetzt, jedoch noch nicht auf seiner

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