Stachel der Erinnerung
dem Teppich. Das hochgerutschte Nachthemd entblößte den Großteil der Oberschenkel. Ihr Gesicht war blass bis in die Lippen.
Berit fiel auf die Knie. „Tessa, hörst du mich?“ Sie bettete den Kopf in ihren Schoß und strich ihr das Haar aus der Stirn. Großer Gott, was mochte nur passiert sein? Sie sah sich hastig nach angebrochenen Tablettenschachteln um, fand aber nichts. Nur die Maske lag wenige Schritte von ihr entfernt. „Tessa!“ Sie klopfte die blassen Wangen und fühlte sich hilflos wie noch nie.
Nick hockte sich auf der anderen Seite nieder und legte zwei Finger auf Tessas Halsschlagader. „Sie lebt“, sagte er dann. „Ihr Herzschlag ist langsam und fest.“
Berit merkte nicht, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen. „Tessa, wach auf. Ich hab’s nicht so gemeint. Mein Gott, ich wollte doch nicht …“ Sie brach ab. Hilflos streichelte sie das unbewegte Gesicht.
„Was sollen wir tun?“, fragte Hendrik und legte die Stirn in Falten. „Wie wär’s mit einem Arzt?“
„Weder das Funkgerät noch die Handys funktionieren“, antwortete Nick, während er Tessas Lider anhob. „Sie ist bewusstlos.“
Berit merkte, wie er auf Tessas Handgelenk sah, das mit der Innenseite nach oben neben dem Körper lag, und hielt sekundenlang den Atem an. Aber natürlich bemerkte er die dünne weiße Linie. Schließlich war er nicht blind. Mit dem Daumen fuhr er sie entlang und hob mit einem fragenden Ausdruck den Kopf. Sie schenkte ihm einen abweisenden Blick und drehte mit schnellem Griff den Unterarm um und legte ihn auf Tessas Bauch.
„Sie braucht keinen Arzt.“ Daria Jelnakowa hatte den Raum betreten. Alle Anwesenden wandten sich ihr zu. Mit großer Geste schob sie Hendrik beiseite und schlängelte sich auch an Nick vorbei.
„Legt sie aufs Bett.“ In ihrer Stimme schwang eine Autorität mit, die über jeden Zweifel erhaben war und alle Fragen im Ansatz erstickte.
Ehe Hendrik reagieren konnte, hatte Nick Tessa hochgehoben und zum Bett getragen. Daria setzte sich neben sie und nahm ihre Hände. Mit geschlossenen Augen begann sie langsam vor und zurück zu schaukeln.
Berit sah ihr zu. Als sie zu summen begann, rieselte ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Warum unternahm niemand etwas gegen dieses lächerliche Theater? Kostbare Zeit wurde verschwendet, Zeit, die vielleicht fehlte, um Tessa zu helfen.
Sie wollte zum Bett gehen, aber Nick hielt ihren Arm fest. In seinen Augen las sie eine Warnung. Noch ehe sie protestieren konnte, stand Daria auf.
„Es geht ihr gut. Sie ist weit, weit weg, aber es geht ihr gut. Wenn die Zeit gekommen ist, wird sie zu uns zurückkehren.“
Jetzt riss sich Berit doch von Nicks Griff los. „Ach, ja, und das sollen wir glauben?“
Nick nahm wieder ihren Arm. „Ja, das werden wir glauben. Sie hat wieder Norwegisch gesprochen.“
„Sie verkauft uns alle für blöd, merkt das denn keiner“, rief Berit wütend. „Vermutlich kann sie perfekt Norwegisch und sagt nur, dass sie es nicht versteht. Wir müssen zusehen, dass wir einen Arzt auftreiben oder Tessa dazu bringen, aufzuwachen.“
Ohne auf sie zu achten, sprach Daria mit Nick, der die Stirn runzelte und dann übersetzte. „Sie wird versuchen, mit Tessas Geist in Kontakt zu treten. Dazu braucht sie unsere Hilfe.“
Berit sah fassungslos von Nick zu Daria. „Ach ja, wirft sie einen Blick in die Kristallkugel oder spielen wir Gläserrücken? Bin ich denn unter lauter Wahnsinnige geraten? Wir müssen Hilfe holen, und zwar schnell!“
Sie wollte sich abwenden, aber Nick packte sie an den Oberarmen. Sein Gesicht befand sich keine fünf Zentimeter vor ihrem, als er sich vorbeugte. „Hören Sie zu, Ms Olsen, auch wenn es Ihnen schwer fällt“, zischte er leise. „Irgendetwas geht hier vor, das ganz bestimmt nicht mit den normalen physikalischen Gesetzen unseres alltäglichen Lebens erklärbar ist. Ich lebe seit fast zehn Jahren hier und noch nie, ich wiederhole, noch nie sind das Funkgerät und das Handynetz gleichzeitig ausgefallen. Wir können keine Hilfe von außerhalb holen, wir müssen uns mit dem behelfen, was wir haben. Ob Ihnen das gefällt oder nicht.“
„Mit einer Wahrsagerin? Einer durchgeknallten Betrügerin?“, zischte Berit zurück.
„Sie ist keine Betrügerin.“ Seine Stimme klang so vollkommen ernst und überzeugt von dem, was er sagte, dass Berit verblüfft blinzelte. „Glauben Sie mir, niemand würde sich mehr wünschen als ich, dass sie eine Schwindlerin ist, die alles nur
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