Stachel der Erinnerung
in Sjodal beigesetzt. Er kehrte nie wieder dorthin zurück. In dem tiefen Loch in der lehmigen Erde war Astrid tot. Auf Bjørendahl lebte sie und dort fühlte er sich ihr nahe. Ihren Traum weiterzuführen war für ihn so selbstverständlich gewesen, wie zu atmen. Auf die Idee, das Torget Sjøhus zu verkaufen, kam er ebenso wenig wie sich für eine andere Frau zu interessieren. Die Sache mit den Touristinnen hatte ihn zuerst verblüfft, dann hatte er es schulterzuckend akzeptiert. Ein rein sexuelles Intermezzo, für das er gerade die Hose aufknöpfen musste, konnte er ohne die geringsten Skrupel vollziehen. Er hatte es vergessen, noch im Moment, in dem es zu Ende war.
Also stand er jetzt mit seinen sechsunddreißig Jahren zum ersten Mal vor der Situation, um eine Frau werben zu müssen. Und nach dem Ergebnis zu urteilen, hatte er auf der ganzen Linie versagt. Zwischen Meldis und ihm gab es nicht den Hauch eines Knisterns, das sich mit etwas Geduld und aufopfernder Pflege zu einem alles vernichtenden Steppenbrand auswachsen konnte. Damit nicht genug, hatte er im Verlauf des heutigen Tages eine weitere bittere Erkenntnis machen müssen. Meldis sah zwar aus wie Astrid, aber sonst gab es keinerlei Ähnlichkeit zwischen den beiden Frauen. Sie waren so verschieden wie zwei Menschen nur verschieden sein konnten. Dort, wo bei Astrid ein großmütiges Herz gesessen hatte, gab es bei Meldis nichts als gähnende Leere. Statt Wissensdurst und Neugier verfügte das Mädchen nur über Trotz und Abwehr gegen alles Unbekannte.
In den miteinander verbrachten Stunden starb sein Interesse an Meldis gemeinsam mit dem Plan, hier zu bleiben und ein Leben mit ihr aufzubauen. Seufzend fragte er sich, wie es weitergehen sollte. Wenn er zu seinem Wort stand und sie freigab, würde sie zu ihren Eltern zurückkehren. Sie würde nicht Hals über Kopf flüchten müssen. Aber hieß das auch, dass sie Kaldak niemals begegnen würde? Dass ihr Leben außer Gefahr war?
Er musste mit Tessa darüber sprechen. Und dann gab es noch ein weiteres Problem – wie sollten sie wieder in ihre Zeit gelangen? Die Tür öffnete sich mit einem leisen Knarren und Nick wandte den Kopf.
Eine Frau hatte den Raum betreten, aber er sah nur das knöchellange weiße Gewand und die geflochtenen Zöpfe, die auf ihre Brust hingen. Ihr Kopf blieb vorerst im Dunklen. Schweigend kam sie auf ihn zu, und sagte auch nichts, als sie sich hinter ihm niederkniete.
Ihre Hände schoben sein Haar zur Seite und begannen, seinen Nacken zu massieren.
Er schloss die Augen und ließ den Kopf nach vorne sinken. Wenn Tessa nicht reden wollte, dann auch gut. Er fühlte sich zu erschöpft, sowohl psychisch als auch physisch. Zu erschöpft, sie daran zu hindern, ihn zu berühren, wie er es getan hätte, wenn er im Vollbesitz all seiner Kräfte gewesen wäre. Zu erschöpft, sie anzuknurren, ihn alleine zu lassen und sich zum Teufel zu scheren.
Außerdem hatte er vergessen, wie gut es sein konnte – acht lange Jahre hatte ihn niemand berührt, weder im wirklichen noch im übertragenen Sinn. Die sanften Finger auf seiner Haut, die die Verspannung in seinem Nacken wegmassierten, die mit mantraartiger Gleichmäßigkeit kreisten, strichen und drückten, woben einen Kokon um ihn, der ihn dazu brachte, sich fallen zu lassen. Alle schwarzen Gedanken und Erinnerungen einfach beiseitezuschieben. Er lehnte sich zurück, an einen warmen Körper und unterdrückte einen Seufzer der Behaglichkeit.
Die Hände hielten einen Moment inne und glitten dann in den Ausschnitt seines Hemdes, das nach dem Bad noch immer offen stand, um in einer federleichten Liebkosung über seine Brust zu wandern.
Er genoss es. Mein Gott, wie sehr er es genoss! Die Intensität, mit der er auf diese Berührungen reagierte, packte ihn vollkommen unvorbereitet und erschütterte ihn bis in die tiefsten Tiefen seiner Seele. In seiner Brust stritten sich Lachen und Weinen und etwas zerbrach mit einem leisen Pling. Ein Ring aus Glas, der ihn gelähmt hatte, seit er an Astrids Grab gestanden hatte.
Die Gefühle, die sich jetzt so nachdrücklich Raum verschafften, überwältigten ihn. Er rang nach Luft und merkte, wie ihm ein Schluchzen die Kehle abdrückte. Wieder hielten die Hände inne, aber diesmal murmelte er heiser und voller Panik: „Mach weiter, um alles in der Welt, hör nicht auf, ich flehe dich an.“
Erleichtert merkte er, dass sie gehorchte. Er fühlte sich wie ein Süchtiger auf der Jagd nach dem nötigen Stoff. Sein
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