Stachel der Erinnerung
Schloß.
Durch das
Fenster beobachtete Matt, wie Jessies Bruder in der Nacht verschwand. Er fragte
sich allerdings, warum er sich nicht erleichtert fühlte.
Jessie saß im Schulzimmer vor ihren
Kindern. Ihr gegenüber beugten sich sechs kleine Köpfe über ihre Tische, das
siebte Kind, ein kleines blondes Mädchen, starrte vor sich hin. Seit Stunden
hatte Sarah sich nicht gerührt.
Jessie
beobachtete sie, und das Herz tat ihr weh. Das Kind war völlig verstört, so
allein. Nachdem die anderen mit ihrer Aufgabe beschäftigt waren, ging Jessie zu
Sarah, nahm ihre Hand und führte sie aus dem Haus in den hellen Sonnenschein.
Ein leichter Nebel machte den Morgen frisch, es würde ein warmer Tag werden.
Doch Sarah hatte die kleinen Ärmchen um sich selbst geschlungen, sie hielt ihr
neues gelbes Musselinkleid fest, als wäre es ihr größter Schatz.
»Es ist
hübsch hier, nicht wahr, Sarah?«
Sarah
antwortete nicht. Seit dem Abend, als sie hier angekommen war, hatte sie nur
ein einziges Wort gesagt. Mama? Als wäre es eine Frage, als könne sie
nicht verstehen, warum Jessie und sie einander so ähnlich waren. Dann hatte sie
sich wieder in ihr Schneckenhaus verkrochen. Sie sprach nicht, und es sah so
aus, als würde sie ihre Umgebung gar nicht wahrnehmen.
Aber das
tat sie.
Ab und zu
entdeckte Jessie, daß ihre Augen aufblitzten, wenn sie etwas Neues und
Wundervolles entdeckte – wie an diesem Morgen, als sie ihr erstes neues
Kleidchen bekommen hatte. Seltsam genug, es war Matthew gewesen, der es ihr
geschenkt hatte. Er hatte es im Dorf gekauft, eines von einem Dutzend neuer
Kleider, die er bestellt hatte. Dies war das erste, das fertig geworden war.
Bis heute hatte Sarah Kleider getragen, die Jessie von den Kindern der Diener
ausgeborgt hatte, sauber, aber schon ein wenig abgetragen.
Selbst
diese Sachen hatten sie zum Staunen gebracht und ihr auch ab und zu ein Lächeln
entlockt – wenn sie sicher war, daß niemand sie beobachtete. Die restliche Zeit
war sie in sich gekehrt und zeigte keinerlei Reaktion.
»Wie geht
es ihr, Miss Jessie?« Simon Stewart, der älteste ihrer Schüler, war nach
draußen gekommen. Ihre Schüler benutzten noch immer die vertraute Anrede für
Jessie, obwohl sie sicher war, daß Matthew nicht damit einverstanden sein
würde, wenn er es erfuhr. »Ich bin mit meiner Aufgabe fertig. Ich habe gesehen,
wie Ihr mit der kleinen Sarah nach draußen gegangen seid.«
»Für sie
ist alles völlig ungewolmt. Ich stelle mir vor, daß sie ihre Mutter vermißt.
Ich glaube, sie hat noch nicht so recht begriffen, was passiert ist.«
»Warum
erzählt Ihr es ihr nicht? Kinder ist ... sind ... klüger, als die meisten
Menschen glauben.«
Jessie
lächelte. »Ich habe es ihr gesagt, Simon. Aber ich schätze, sie hat mir gar
nicht zugehört.«
Der
schlaksige Junge kniete neben dem kleinen Mädchennieder. Die Kinder mochten
die Kleine sehr. Sie alle waren irgendwie angerührt durch die Ängste, die das
kleine Mädchen in sich verbarg. »Miss Jessie sagt immer die Wahrheit, Sarah.
Sie mag Kinder. Es gibt keinen von uns, der sie nicht gern als Mutter hätte. Du
weißt gar nicht, wieviel Glück du hast.«
Jessie
wurde rot. Es war wundervoll, zu wissen, wie sehr die Kinder sie liebten.
»Danke, Simon.« Sie sah ihm nach, als er wieder ins
Klassenzimmer ging. Er hatte große Fortschritte gemacht, seit er am Unterricht
teilnahm. Sie blickte auf das Kind, das mit seinen Blicken dem Jungen folgte.
»Er ist ein guter Junge, nicht wahr, Sarah?«
Sarah blieb
stumm und gab nicht zu erkennen, ob sie Jessies Worte gehört hatte.
»Wie wäre
es mit etwas zu essen?« fragte sie und sah, wie die blauen Augen des kleinen
Mädchens aufleuchteten. »Wir werden sehen, ob die Köchin etwas für uns hat,
sobald die Kinder mit ihren Arbeiten fertig sind.«
Jessie
bückte sich, hob das Kind hoch und setzte es sich auf die Hüfte. Die Arme des
kleinen Mädchens legten sich um ihren Hals, und Jessies Herz wurde eng. Sie
verfluchte ihren Bruder, wie schon so oft zuvor. Sie dachte an die blauen
Flecken, die sie auf dem Rücken und den Beinen des Kindes gesehen hatte, als
sie es am ersten Abend ins Bett gebracht hatte. Sie wußte, was Danny mit ihr
angestellt hatte, um sie so zu verängstigen.
Ein Gefühl
des Unbehagens beschlich sie. Sie drückte Sarah beschützend an sich. Ihr Bruder
durfte dieses Kind nie wieder in seine Gewalt bekommen, das schwor sie sich.
Doch ein beklemmendes, unbestimmtes Gefühl konnte sie nicht
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