Stachel der Erinnerung
brach das Wachssiegel und riß dann den Umschlag auf. Die
Handschrift kannte sie nicht. Ihr Herz pochte unregelmäßig, als die Worte
langsam einen Sinn ergaben – sie wußte, woher die Nachricht kam.
Danny!
In
einfachen Worten ausgedrückt: Er wollte mehr Geld. Er hatte die Nachricht nicht
selbst geschrieben, aber wer auch immer den Text für ihn niedergeschrieben
hatte, wußte von der Besprechung,
zu der Matthew gestern morgen aufgebrochen war. Im nahen Beaconsfield fand eine
Versammlung der örtlichen Landbesitzer und ihrer Pächter statt. Matthew würde
erst morgen zurückkommen.
Danny
forderte weitere fünfhundert Pfund, und falls sie ihm die nicht gäbe, würde er
alles über sie erzählen. Gleich morgen früh hatte er vor, nach London zu reisen
und dort zur Zeitung zu gehen. Gemeiner Klatsch war immer eine gute Nachricht,
und nach dem Skandal ihrer geplatzten Hochzeit mit dem Herzog würde ein
weiterer Skandal tödlich sein, ganz besonders ein so schlüpfriger wie dieser.
Jessies
Magen verkrampfte sich. Der Name Belmore hatte schon genug erdulden müssen. Ein
Skandal dieses Ausmaßes würde die Familie ruinieren, sie wäre für immer von der
Gesellschaft ausgeschlossen. Lieber Gott, was sollte sie nur tun?
Jessie las
die Nachricht noch einmal, das Blatt zitterte in ihrer Hand. Sie durfte nicht
zulassen, daß Danny sie ständig erpreßte, doch sie konnte auch nicht
riskieren, daß ihr Geheimnis enthüllt wurde. Sie mußte sich etwas einfallen
lassen, wie sie ihn aufhalten konnte. Und das noch heute abend.
Sie
richtete sich energisch auf, verließ die Veranda vor dem Schulzimmer und ging
zum Haus. Sie sollte sich mit ihrem Bruder hinter der Wayfarer Taverne
treffen, am Rand des Dorfes. Himmel, wenn doch nur Matthew hier wäre.
Nun, er war
nicht hier, und bis morgen war es zu spät.
Außerdem
war Matthew nach wie vor zurückgezogen und verschlossen. Jessie wußte den Grund
dafür nicht. Sie wußte nicht, ob sie etwas getan hatte, das ihm mißfiel, oder
ob er sich vielleicht darüber aufregte, daß er für das Kind ihres Bruders
sorgen mußte. Eine Nachricht wie diese würde alles sicher noch viel schlimmer
machen. Es wäre besser, wenn sie ihm erst davon erzählte, wenn sie das Problem
gelöst hatte.
Jessie
nagte an ihrer Unterlippe und versuchte zu überlegen. Sie dachte an Papa
Reggie. Er war immer für sie dagewesen, doch seine Gesundheit war zu schwach.
Sie durfte das Risiko nicht eingehen, ihn aufzuregen.
Danny war
ihr Bruder – also im Grunde ihr Problem und nicht das von Matthew oder sonst
jemandem. Sie selbst mußte sich mit Danny auseinandersetzen – und diesmal würde
sie dafür sorgen müssen, daß er ihnen nicht noch einmal Schwierigkeiten
machte.
Ein
leichter Wind fuhr
durch die Blätter des Baumes über ihr. Hoch oben in den Zweigen heulte eine
Eule. Ein Schauer lief durch Jessies Körper. Es war eine finstere Nacht, nur
eine schmale Mondsichel lugte durch die Wolken am Himmel. Nachdem Jessie an der
Taverne angekommen war, war sie dankbar dafür, daß die Nacht ihr Schutz bot und
sie sich im Dunkel verbergen konnte. Niemand sollte sehen, daß sie sich hier
mit Danny Fox traf.
»'n Abend,
kleine Schwester.« Ihr Bruder zog eine Uhr aus der Tasche seiner safranfarbenen
Brokatweste und warf einen Blick darauf. »Ich dachte mir, daß du kommen
würdest. Ich glaube, du bist sogar ein paar Minuten zu früh.«
Jessie zog
die Kapuze ihres Umhangs noch ein wenig tiefer ins Gesicht. Es war sowieso
schon sehr spät. Es würde Mitternacht sein, ehe sie wieder in Belmore war.
»Ich habe
getan, was du mir gesagt hast. Ich hatte nicht so viel Geld. Ich habe alles
mitgebracht, was ich gespart habe, und noch einige Schmuckstücke. Sie sind mehr
als fünfhundert Pfund wert, selbst wenn du nicht den normalen Preis dafür bekommen
solltest, wenn du sie verkaufst. Mehr konnte ich in so kurzer Zeit nicht tun.«
Danny
lächelte. »Wie der Hafen im Sturm, das sage ich doch immer wieder.»Er griff
nach dem Beutel, den sie in der Hand hielt, doch Jessie trat einen Schritt
zurück und schüttelte den Kopf.
»So einfach
ist das nicht, Danny. Diesmal nicht.« In der anderen Hand hielt sie plötzlich
eine kleine Pistole, die sie einem betrunkenen Soldaten gestohlen hatte, in der
Nacht, als sie den Black Boar Inn verlassen hatte. Sie hatte sie nun aus den
Falten ihres Rockes gezückt und zielte damit genau auf Dannys Herz.
»Ich werde
dir das Geld geben, wie du es gewollt hast. Aber eines sollst du begreifen
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