Stachel der Erinnerung
kleinen Mädchen hinüber. »Ich hatte eine wunderschöne
Kindheit ... bis meine Mutter wieder geheiratet hat. Ich kannte meinen
richtigen Vater gar nicht. Er starb, als ich noch sehr jung war, doch ich habe
ihn mir immer als den starken, mutigen Ritter in der glänzenden silbernen
Rüstung vorgestellt. Das machte das Leben mit Waring jedoch noch schlimmer.«
Sie blickte Jessie an. »Ich weiß, wie es ist, wenn man so brutal behandelt wird
wie Sarah. Sie hat Glück, daß sie dich und Lord Strickland gefunden hat. Jetzt
wird sie in Sicherheit sein.«
Jessie
griff nach Gwens Hand. »Und wie steht es mit dir, Gwen? Was wird Lord Waring
dir antun, weil du ohne seine Erlaubnis hierhergekommen bist?«
Sie zuckte
mit den Schultern, doch ihr Körper spannte sich an. »Ich weiß es nicht. Er ist
in letzter Zeit sehr beschäftigt, seine Dirnen zu quälen. Vielleicht klappt es
ja, wie dein Mann erwähnt hat, daß Lady Bainbridge ein gutes Wort für mich einlegen
kann.«
»Du hast
gesagt, du willst nicht heiraten, aber es wäre doch sicher besser, wenn du dir
einen Mann nehmen würdest, anstatt bei einem solchen Vater zu leben.«
Gwen
schüttelte den Kopf. »Ich würde nur einen Gebieter gegen den anderen
austauschen. Ich möchte Herr meines eigenen Schicksals sein, Jess. Früher oder
später werde ich einen Weg finden, diese Aufgabe zu lösen.«
Jessie
hoffte, daß ihrer Freundin das gelingen würde, doch sie war sich da überhaupt
nicht sicher.
Als sie
jetzt Gwen zuwinkte, die durch das Fenster von Lady Bainbridges fahrtbereiter,
eleganter schwarzer Kutsche sah, wünschte Jessie, daß sie ihrer Freundin
irgendwie helfen könnte. Doch was konnte sie schon für sie tun? Sie dachte an
die kleine Sarah, die oben auf sie wartete. Wenigstens war sie in der Lage,
ihrer Nichte zu helfen. Nachdem die Gäste nun abgereist waren, würde sie
wieder mehr Zeit mit dem Kind verbringen.
Und
vielleicht auch mit ihrem Mann.
Doch leider
schien sich die Kluft zwischen Jessica und Matthew in den nächsten Tagen noch
zu vergrößern. Er war die meiste Zeit über sorgenvoll und angespannt, obwohl er
sich Mühe gab, das zu verbergen.
Jessies
Kummer wuchs. Was geschah mit ihnen? Er zog sich von ihr zurück, so wie er es
schon früher getan hatte. War Caroline Winston dafür verantwortlich, oder gab
es noch etwas anderes? Vielleicht hatte es etwas mit dem Krieg zu tun. Seit seiner
Besprechung mit Admiral Dunhaven war er so unnahbar. Er würde doch bestimmt mit
ihr darüber sprechen, wenn er auf sein Schiff zurückkehren sollte, oder?
Sie wollte
ihn danach fragen, doch fürchtete sie sich vor seiner Antwort. Sie hatten nie
über ihre Gefühle gesprochen und auch nie über die Zukunft. Matthew war bis
jetzt ein pflichtgetreuer Ehemann gewesen, und er war voller Hingabe und Leidenschaft
im Bett. Das bedeutete aber nicht, daß er sie liebte. Oder daß er sie brauchte.
Oder daß er sie als seine Frau akzeptiert hatte. In Wahrheit war sie ihm
gesellschaftlich nicht gleichgestellt.
Das würde sie auch niemals sein, ganz egal, wie sehr sie nach außen hin als
Lady wirken mochte.
Mit jedem
Tag, der verging, wurde Jessie unsicherer. Sie hatte keine Ahnung, in welche
Richtung ihr Leben sich bewegte, sie wußte nur, daß sie mit einem Mann
verheiratet war, der sie in seinem Bett haben wollte, der jedoch niemals die
Absicht gehabt hatte, sie zu ehelichen. Sie hatte ihn mit einem Trick zu dieser
Verbindung gezwungen, und obwohl er die Heirat selbst vorgeschlagen hatte,
fühlte sie sich schuldig.
Unvermittelt
tauchte zusätzlich ein weiteres Problem auf, eines, von dem sie geglaubt
hatte, es sei gelöst. Schlagartig verzehnfachten sich ihre Sorgen.
»Entschuldigung,
Mylady.« Der Butler stand an der Tür des kleinen Schulzimmers, in dem Jessie
gerade an der Tafel stand. Sie zeichnete eine provisorische Karte von England,
die an diesem Tag der Geschichtsstunde dienen sollte.
»Ja,
Ozzie?«
»Einer der
Jungen im Dorf hat mir das gegeben. Er hat darauf bestanden, daß niemand
anderes die Nachricht bekommen sollte außer Euch.«
Jessie
blickte auf die Kinder. Sechs Augenpaare schauten sie neugierig an. »Danke,
Ozzie.« Der Mann nickte, wandte sich um und ging zum Haus zurück. »Kinder –
wenn ihr mit eurer Aufgabe fertig seid, dann könnt ihr gehen. Das ist alles für
heute.«
Blicke
schossen hin und her, dann beugten die Köpfe sich wieder über ihre Arbeit.
Jessie ging nach draußen und fragte sich, wer ihr wohl diese Nachricht
geschickt hatte. Sie
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