Stachel der Erinnerung
tust du denn hier, meine Süße? Es ist doch noch viel
zu früh, um schon aufzustehen, und es ist auch viel zu kalt.«
Sie
musterte ihn nur stumm. Ihre blauen Augen blickten prüfend in seine. Ihr Haar
war so hell wie Mondlicht. Er rückte ein Stück von ihr weg und sah sich nach
dem Butler um, weil er hoffte, daß Ozzie das Kind zurück in sein Zimmer bringen
würde. Doch der Butler war nirgends zu sehen.
Als er sich
wieder zu Sarah hinabbeugte, streckte sie ihm beide Ärmchen entgegen und bat
ihn so, sie auf den Arm zu nehmen. Ohne nachzudenken, hob er sie hoch und
stellte dabei fest, wie kalt ihre Füßchen waren. Er fragte sich, warum sie
keine Schuhe angezogen hatte. »Wo sind deine Schuhe?« fragte er sie. »Du wirst
dich erkälten, wenn du sie nicht anziehst.«
Sie schlang
die dünnen Ärmchen um seinen Hals und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Ihr
weiches Haar kitzelte seine Wange, und seine Brust wurde ganz eng. Er trug sie
an der schlafenden Viola vorbei zum Kinderzimmer, in dem Sarah schlief. Am Fuße
des Bettes setzte er sie ab, doch als er sich von ihr befreien wollte,
klammerte sie sich an seinen Hals.
Große blaue
Augen sahen ihn an und füllten sich dann mit Tränen. »Papa ...«, sagte sie
leise und drückte einen unbeholfenen, warmen Kuß auf seine Wange. Dann legte
sie ihren Kopf wieder an seine Schulter. Matts Brust wurde so eng, daß er kaum
atmen konnte.
Er schlang
die Arme um sie, setzte sich aufs Bett und wiegte sie zärtlich. Er war nicht
sicher, wer von ihnen beiden sich verlorener fühlte, die kleine Sarah – oder
er selbst.
Er wußte
nicht, wie lange er so gesessen hatte, mit dem kleinen Mädchen auf seinem
Schoß. Er bewegte sich nicht, bis sie eingeschlafen war, und selbst dann blieb
er noch einen Augenblick lang sitzen.
Schließlich
legte er sie vorsichtig in ihr Bett und trat ein paar Schritte zurück. Er
fragte sich, wie es wohl sein würde, wenn er Kinder mit Jessie hätte. Wie wäre
seine Ehe wohl verlaufen, wenn seine Frau ihn nicht betrogen hätte?
Er dachte
daran, ob er je ein eigenes Kind haben würde, dann kam ihm der Gedanke, daß
Jessie in der letzten Nacht, als sie einander geliebt hatten, ein Kind
empfangen haben könnte. Er verspottete sich selbst, als er durch den Flur ging.
Nach dem, was er an der Taverne gesehen hatte, würde er niemals wissen, ob
dieses Kind auch wirklich seines war.
Der Schmerz
verging nicht, er fühlte ihn mit jedem Schlag seines Herzens. Als er sich dann
mit aller Gewalt zusammenriß, schwand dieses Gefühl langsam. Nach einiger Zeit
würde er gar nichts mehr fühlen, nur die gleiche Leere, die er gefühlt hatte,
ehe er Jessie heiratete, eine Leere, die er dummerweise von ihr hatte ausfüllen
lassen.
Mit einem
letzten verbissenen Blick auf ihre Tür lief Matt die Treppe hinunter und ging
zu den Ställen hinüber.
Die
ganze Nacht hatte
Jessie sich in ihrem Bett hin und her gewälzt und sich Sorgen gemacht. Erst
als die Morgendämmerung anbrach, schlief sie ein, und sie schlief viel länger,
als sie es vorgehabt hatte. Minnie kam ein paar Minuten, nachdem sie aufgewacht
war, ins Zimmer. Sie plapperte fröhlich wie immer, doch Jessie
hörte kaum, was sie sagte. Sie fühlte sich seltsam leer und erschöpft, und
dennoch waren ihre Nerven zum Zerreißen gespannt. Sie machte sich Sorgen um
Matthew, um den Zorn, den sie in der letzten Nacht in ihm gefühlt hatte, und
sie fragte sich, was er wohl sagen würde, wenn sie ihm von ihrem Bruder
erzählte.
Sie kletterte
aus dem Bett. Ihr Körper war noch wund von der Leidenschaft der letzten Nacht.
Schnell zog sie ein pflaumenblaues seidenes Tageskleid an, dann ließ sie sich
von Minnie das Haar bürsten. Das Mädchen war jetzt ihre Kammerzofe, seit Vi
ihre ganze Zeit mit der kleinen Sarah verbrachte.
»Mach nicht
so viel Aufhebens, Minnie, ich habe keine Zeit.«
»Jawohl,
Mum.« Dennoch dauerte es schier endlos lange, bis sie ihr das Haar zu den
richtigen Löckchen auf dem Kopf getürmt hatte und der Rest ihres Haares in Locken
lose über den Rücken fiel. Sie wollte hübsch aussehen für Matthew, doch es war
schon sehr spät, und mit jeder weiteren Minute wuchs ihre Nervosität.
Sie mußte
immer wieder daran denken, wie sie sich in der letzten Nacht geliebt hatten –
wild, fast gewalttätig. Am Anfang hatte sie sich gefürchtet, doch ihre Furcht
war schon sehr bald der heißen Flamme der Leidenschaft und der Lust gewichen.
Jetzt, am hellen Tag, schämte sie sich ein wenig ihrer
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