Stachel der Erinnerung
»Ja, das tue ich wirklich sehr gern.« Noch
viel froher war sie allerdings darüber, daß dieses Taschentuch nicht einer aus
den Legionen von Frauen gehörte, die er erobert hatte.
Wie es
schien, gehörte doe Aufmerksamkeit des Vicomte, wenigstens
momentan, ihr ganz allein.
19
Graue Morgendämmerung fiel durch die
Fenster des Arbeitszimmers. Matt setzte sich auf dem braunen Ledersofa auf,
auf dem er endlich eingeschlafen war, sein Nacken war steif, dichte
Bartstoppeln bedeckten sein Gesicht. Sein Schädel dröhnte von dem Brandy, den
er getrunken hatte, seine Kleidung war zerknittert und schmutzig von dem Ritt
gestern nacht.
Er rieb
sich mit der Hand über das Gesicht. Seine Gedanken waren noch schlaftrunken,
ließen sich jedoch auf Dauer nicht beiseite schieben. Die Ereignisse der
letzten Nacht lagen ihm schwer wie Blei auf den Schultern. Er war Jessie zurück
nach Belmore gefolgt und dann nach oben gestürmt, um sie zur Rede zu stellen.
Sie sollte ihren Betrug zugeben und ihm den Namen ihres Geliebten verraten.
Statt
dessen hatte er seinem Zorn auf eine andere, viel primitivere Art Luft
gemacht. Er hatte zugelassen, daß die ekstatische Lust, die er nach ihr
verspürte, sich zügellos entlud. Er hatte sie brutal besessen, fast
vergewaltigt.
Dennoch war
er in all seinem Zorn bemüht gewesen, sie nicht zu verletzen.
Matt fuhr
sich mit der Hand durch sein zerzaustes Haar und überlegte, was er nur falsch
gemacht hatte. Er hatte geglaubt, daß er sich wieder unter Kontrolle haben
würde, wenn seine Wut erst
einmal verraucht war. Doch er hatte sich gründlich geirrt. Selbst nach ihrem
wilden Liebesspiel war sein Zorn noch nicht vorüber. Er war viel zu aufgebracht
gewesen, um sie zur Rede zu stellen. Heute morgen, hatte er sich geschworen,
wenn eisige Ruhe ihn wieder beherrschte, würde er seine Frau zwingen, ihre
Affäre zuzugeben.
Doch als er
jetzt die Treppe hinaufstieg und in sein Zimmer ging, um dort nach seinem
Kammerdiener zu läuten, konnte er den Mut nicht aufbringen, Jessie
gegenüberzutreten. In den Wochen ihrer Ehe hatte sich mit ihm ein eigenartiger
Wandel vollzogen. Sein Verlangen nach ihr war nicht verebbt – es war noch
gewachsen. Er hatte versucht, dagegen anzukämpfen, doch statt dessen hatte sie
noch andere Gefühle in ihm geweckt – das Gefühl, sie beschützen zu wollen, von
dem er gar nicht gewußt hatte, daß er es besaß, Sorge um die kleine Sarah und
die Sehnsucht nach eigenen Kindern, ein Glücksgefühl in seinem Herzen, wenn
seine Frau das Zimmer betrat, in dem er sich gerade aufhielt.
Er hatte
sich geschworen, seine Vorsicht niemals außer acht zu lassen, seine Gefühle
unter Kontrolle zu halten, doch er hatte versagt. Er hatte zugelassen, daß er fühlte, etwas, das er seit dem Tod seiner Mutter vermieden hatte – und endgültig,
seit sein Bruder umgekommen war.
Und jetzt
zahlte er den Preis dafür.
Matthew
badete und zog sich um. Er schlüpfte in eine saubere Reithose und ein weißes
Batisthemd. Immer wieder gingen seine Blicke zu der Verbindungstür zu Jessies
Zimmern. In seinem Schädel hämmerte es noch, doch es war dieser Klumpen in
seinem Magen, der ihn am meisten störte, dieser hohle Schmerz, der sich immer
dann auszudehnen schien, wenn er an Jessie dachte. Selbst sein Zorn über ihren
Betrug konnte dieses Gefühl nicht vertreiben.
»Ich werde
erst heute abend zurückkommen, Rollie«, erklärte er seinem Kammerdiener. »In
der Zwischenzeit kannst du damit beginnen, meine Sachen zu packen.«
»Mylord?«
»Ich werde
morgen nach Portsmouth abreisen. Ich habe auf eine Nachricht von Admiral Nelson
gewartet, die mich auf mein Schiff zurückruft. Doch jetzt habe ich mich
entschieden, dort zu warten und nicht hier.«
»Sehr wohl,
Sir.« Der junge Mann sah ihm verblüfft hinterher. Er wunderte sich über diese
plötzliche Hast des Grafen abzureisen. Seine Frau würde unter dem Klatsch der
Dienerschaft leiden müssen, ihm war so was offensichtlich egal.
Matthew
steckte seine Handschuhe unter den Gürtel seiner Hose, dann ging er den Flur
entlang zur Treppe. Er war beinahe unten angekommen, als er die zarte Gestalt
entdeckte, die im Schatten neben dem Treppengeländer aus Mahagoni stand und ihm
entgegensah. Er ging etwas langsamer, weil er das Kind nicht verängstigen
wollte.
»Sarah?« Er
blieb vor ihr stehen und kniete dann nieder. Mit dem kleinen, energischen Kinn
und der geraden Nase sah sie Jessica so ähnlich, daß ein heftiger Schmerz durch
seine Brust zuckte. »Was
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